Solche oder so ähnliche Aussagen hört man immer wieder …
- „Ich möchte mich nur verteidigen, den anderen dabei aber nicht verletzen.“
- „Mein Selbstverteidigungslehrer ist Polizist. Der muss sich also auskennen.“
- „Ich mache einen 10- wöchigen Selbstverteidigungskurs. Der bereitet mich gut auf alle denkbaren Situationen vor.“
… und es sind auch allesamt Ansichten, die die breite Öffentlichkeit teilt, wenn es um das Thema Selbstverteidigung geht.
Doch weißt du, was all diese Aussagen noch gemeinsam haben? Sie sind alle Mist.
Es sind Mythen, die sich hartnäckig in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit halten. Und dabei sind diese Mythen auch noch gefährlich …
Mythos Nr. 1:
Der Kampf beginnt außerhalb der Schlagdistanz
Seien wir mal ehrlich: Wenn man an einen Kampf denkt, dann hat man irgendwelche Bilder aus Hollywoodfilmen vor Augen. Zwei Typen stehen sich gegenüber, die Fäuste haben sie bereits oben und sie tänzeln erstmal einige Sekunden umher bevor sie sich angreifen.
Doch in der Realität wird ein Kampf kaum auf diese Weise ablaufen.
Der Idiot in der Bar wird sich mit blöden Anmachsprüchen in Schlagdistanz reden, dich schubsen, nach deinen Klamotten greifen und dir vielleicht eine Ohrfeige verpassen. Und wenn er dich mit einem Schwinger angreift, dann ist er dabei schon so nah, dass du seinen Atem spüren kannst.
Das Arschloch, das dich ausrauben will, wird die Uhrzeit von dir wissen wollen oder dich nach einer Zigarette fragen. Bevor er dir unvermittelt eine überzieht und dich ins Land der Träume befördert.
Der kleine Verlierer, den es ganz geil macht, wenn er dich etwas betrunken im Minirock gehen sieht, wird dich von hinten packen und in die dunkle Seitengasse schleifen.
Hollywoodfilme haben in der Regel nichts mit der Realität zu tun. Und in der Realität verlaufen Kämpfe eben nicht in Duellkampfmanier. Täter suchen sich Opfer aus und wollen auch keinen fairen Kampf.
Selbstverteidigung hat nichts mit Fairness zu tun – und deshalb beginnt ein Kampf auch fast nie außerhalb der Schlagdistanz, wo sich alle darauf einstellen können, dass es gleich losgehen wird.
Mythos Nr. 2:
Es genügt, ein paar Kniffe zu lernen
Laien haben meist eine gänzlich falsche Vorstellung davon, was gutes Selbstverteidigungstraining umfassen sollte. Was viele dabei nicht einsehen: Es genügt nicht, bloß ein paar Selbstverteidigungskniffe zu lernen, um sich effektiv verteidigen zu können.
Mal abgesehen davon, dass viele die Selbstverteidigungskniffe von ihrem Trainer nur SEHEN und sie gar nicht wirklich LERNEN. Denn dazu sind viele hundert Wiederholungen nötig.
Versteh mich bitte nicht falsch: Solche Kniffe und Techniken haben durchaus ihre Daseinsberechtigung und es lohnt auch, sich damit zu beschäftigen.
Was dabei aber komplett verloren geht, sind allgemeine Kampffähigkeiten, die du unbedingt brauchst, um auch gegen deutlich Stärkere eine Chance zu haben. Dazu gehören vor allem Dinge wie Schlagkraft und optisches Reagieren.
Die schlechte Nachricht ist: Es dauert seine Zeit, bis du diese Kampffähigkeiten entwickelt hast.
Und damit kommen wir auch gleich zu Mythos Nr. 3 in der Selbstverteidigung:
Mythos Nr. 3:
Ein Selbstverteidigungskurs bereitet mich auf alles vor
Ich sehe Selbstverteidigungskurse gar nicht so negativ, wie es vielleicht grade den Anschein hat. Wenn du 10 Mal zu so einem Training hingehst, dort effektive Tipps bekommst und Techniken trainierst, dann ist das doch schon mal ein guter Anfang.
Ein Selbstverteidigungskurs hat zumindest den Vorteil, dass du jetzt kein reines Opfer mehr bist, sondern ein Gegner.
Doch von EINEM Gedanken solltest du dich verabschieden: Nämlich, dass dich ein solcher Kurs auf alle Bedrohungssituationen und alle möglichen Angriffe vorbereiten wird. Das geht sich mit 10 Mal Training einfach nicht aus.
Selbstverteidigung umfasst so vieles – das kannst du unmöglich so schnell abdecken.
Und es stellt sich dabei noch ein anderes Problem: Auch die im Kurs gelernten Sachen wirst du schnell wieder vergessen, wenn du sie nicht regelmäßig trainierst. Ich gehe jede Wette ein, dass du nach einem Jahr das meiste schon wieder vergessen hast.
Wirklich gute Selbstverteidigungsfähigkeiten entwickelst du nur dann, wenn du über einen längeren Zeitraum regelmäßig trainierst.
Da führt leider kein Weg vorbei – auch wenn dir ein Anbieter für Selbstverteidigungskurse etwas anderes einreden will.
Mythos Nr. 4:
Ich kann mich verteidigen
ohne dem anderen weh zu tun
Okay, ich muss vorausschicken, dass dies natürlich möglich ist. Du kannst dich wirklich verteidigen ohne dabei dem anderen weh zu tun.
Mit einer klitzekleinen Einschränkung: Du solltest bereits Meister oder gar Großmeister in einer Kampfkunst sein und viele tausende – oder gar zehntausende – an Trainingsstunden auf dem Buckel haben.
Als Anfänger (und auch als leicht Fortgeschrittener) würde ich es nicht mal erwägen, den anderen NICHT kampfunfähig zu machen.
Wenn du dich als Anfänger mit der Absicht verteidigst, den vor Wut schnaubenden Aggressor in einen Hebel bzw. Kontrollgriff zu nehmen, dann wird das zu 99 Prozent folgenden Effekt haben:
Du bekommst was auf die Schnauze.
Ein Hebel passiert – man kann ihn vorher nicht planen. Die einzigen, die das entspannt versuchen können, sind echte Profis.
Und wie auf jedem Gebiet gibt es auch in der Kampfkunst und in der Selbstverteidigung viel mehr Besserwisser als Besserkönner. Nur wenige sollten es also versuchen, sich NUR zu verteidigen.
Für alle anderen gilt:
Angriff ist die beste Verteidigung.
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Du willst Selbstverteidigung lernen, die wirklich funktioniert?
Wenn ja, dann schau hier mal vorbei:
Selbstverteidigung lernen – Schritt für Schritt
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Mythos Nr. 5:
Es geht in der Selbstverteidigung nur ums Abwehren
Dieser Mythos hängt unmittelbar mit dem vorherigen zusammen. Vielleicht sollte man statt Selbstverteidigung auch irgendeinen anderen Begriff erfinden.
Nur weil -verteidigung darin vorkommt, aber nirgends die Rede ist von Angriff, glauben viele ernsthaft, dass Selbstverteidigung nur mit Verteidigen funktioniert – also ganz ohne Gegenangriff.
Damit du weißt, wie gefährlich es ist, sich rein auf´s Verteidigen zu beschränken, probier mal folgende Übung:
Sag deinem Trainingspartner (oder einfach irgend einem Freund / einer Freundin), er /sie soll dich mit Schwinger hoch und Schwinger tief angreifen (am besten mit Faustschützer und vorsichtig, damit nichts passiert). Und zwar immer abwechselnd rechts und links. Das Ganze natürlich durcheinander, sodass du nicht weißt, ob der nächste Angriff zum Kinn geht, oder zu den Rippen.
Sag deinem Trainingspartner aber, dass er dich richtig schnell angreifen soll – und zwar ohne aufzuhören. Einfach immer abwechselnd links und rechts mit einem Schwinger angreifen.
Deine Aufgabe ist es, einfach nur jeden einzelnen Schlag abzuwehren – egal wie.
Wie lange hat es gedauert, bis du getroffen wurdest? Wenn dein Trainingspartner wirklich schnell angreift, dann ist im Normalfall spätestens nach dem dritten oder vierten Angriff Schluss.
Den ersten wehrt man nämlich noch halbwegs sicher ab (zumindest wenn man es trainiert hat). Der zweite ist schon schwierig, aber dennoch machbar.
Ab dem dritten Angriff wird es aber sagenhaft schwierig ihn noch abzuwehren.
Und wenn du mir immer noch nicht glaubst (wahrscheinlich, weil du diese Übung nicht ausprobiert hast), dann denk es dir doch mal rein mathematisch durch:
Wenn du für jeden Angriff eine Abwehrwahrscheinlichkeit definierst (die gezwungener Maßen unter 100% sein muss, da du auch einen Fehler machen kannst, egal wie gut du bist): Wie wahrscheinlich ist es getroffen zu werden, wenn der Gegner nicht aufhört anzugreifen?
Lass das mal wirken …
Mythos Nr. 6:
Selbstverteidigung endet mit der Konfrontation an sich
Stell dir mal vor, es macht dich jemand in einer Bar an. Es ist nach Mitternacht und alle Gäste sind schon recht angeheitert.
Da kommt auf einmal dieser Typ auf dich zu und kommt dir mit einem blöden Spruch á la „Was schaust du so blöd? Willst eine auf`s Maul“.
Du bist die härteste Sau weit und breit und erwiderst ihm lautstark, dass er besser verschwinden soll, sonst brichst du ihm jeden Knochen einzeln. Und du schubst ihn dabei auch noch weg.
Der Typ ist tief in seinem Ego gekränkt und schubst dich seinerseits.
Jetzt erwiderst du ihm, ob er was auf die Fresse will und renkst ihm fast im selben Augenblick das Kiefer aus.
Die Fanfaren erklingen aber nur kurz. Spätestens vor Gericht fällt dir die Kinnlade runter: Zeugen sagen aus, dass du den armen Typen aus heiterem Himmel angegriffen hast.
Der Anwalt des Klägers fordert Schmerzensgeld – und nicht zu knapp.
Aber mach dir nichts draus. Man sagt ja, dass solche negativen Erfahrungen angeblich den Charakter stärken sollen … 😎
Mythos Nr. 7:
Man muss sich nur gegen Fremde verteidigen
Wenn man an Selbstverteidigung denkt, dann kommen einem nur gefährliche Situationen in den Sinn, die man in der Öffentlichkeit erlebt. Im Falle von uns Männern stimmt das ja auch meistens.
Doch bei Frauen ist die Sachlage anders: Sie müssen mit Gewalt eher in den eigenen vier Wänden rechnen.
Zumindest kam eine Studie zum Thema „Gewalt in der Familie und im nahen sozialen Umfeld“ zu diesem Schluss:
- Psychische Gewalt gegen Frauen rührte zu 44,6 Prozent vom Partner her.
- Frauen erleben körperliche Übergriffe am ehesten in der Partnerschaft (29,1 Prozent) bzw. in der Familie (25,2 Prozent)
- Auch sexueller Gewalt sehen sich Frauen vor allem in der Partnerschaft ausgesetzt.
- Einzig sexuelle Belästigung findet auch bei Frauen vor allem im öffentlichen Raum statt und weniger im unmittelbaren sozialen Umfeld.
Mythos Nr. 8:
Ich muss vor allem Bodenkampf trainieren,
denn über 80% der Kämpfe enden am Boden
In Zeiten von MMA-Wettkämpfen und Cagefights, die man sich im Web zahlreich ansehen kann, entsteht leicht der Eindruck, sich vor allem mit Bodenkampf beschäftigen zu müssen.
Es gibt fast keinen Kampf, wo nicht zumindest einer der beiden Kontrahenten versucht, den anderen zu Boden zu bringen. Und nicht wenige dieser Kämpfe werden auch am Boden durch irgendeinen Aufgabegriff entschieden.
Doch auch wenn es für einen guten Bodenkämpfer eine gute Taktik sein kann, im Ring den anderen zu Boden zu befördern, um ihn dort mit Grapplingfertigkeiten zur Aufgabe zu zwingen: in einer realen Selbstverteidigungssituation würde ich das nicht probieren. Denn:
- Du landest auf einem harten Untergrund.
- Vielleicht haben diverse Hunde dort bereits ihre Notdurft verrichtet.
- Oder ein Betrunkener hat sich dort angekotzt.
- Möglicherweise landest du auf Kieselsteinen – oder es liegen Glasscherben umher.
- Vielleicht ist dir aber auch der Bordstein oder ein Barhocker im Weg, wenn du zu Boden gehst.
Kurz gesagt:
Wenn du etwas vor allem trainieren solltest, dann ist dies Anti-Bodenkampf – will heißen: Wie stellst du sicher, dass du nicht zu Boden gehst bzw. schnell wieder aufkommst, wenn´s doch mal passiert ist.
Und falls dir dein Gegner einen Bodenkampf ungewollt aufzwingt, dann setze alles ein was du hast. Lass dich nicht auf einen Grapplingkampf ein. Stich ihm in die Augen oder greif seine Kronjuwelen – und er wird sicher bald die Lust verlieren.
(Allerdings: Gewisse Grapplingkenntnisse können nicht schaden. Dadurch bekommst du ein Gefühl, was der andere am Boden alles machen kann und du lernst dich optimal am Boden zu bewegen. Aber es sollte meiner Meinung nach nicht im Mittelpunkt eines Trainings stehen, das vor allem auf Selbstverteidigung abzielt.)
Mythos Nr. 9:
Militärischer Nahkampf eignet sich am besten zur Selbstverteidigung
„Wenn es das Militär macht, dann muss es gut sein.“ So lautet zumindest die gängige Meinung.
Und es stimmt schon: Beim Militär werden sie nicht irgendeinen Mist trainieren, der so nie funktionieren würde in der Realität. Zudem trainieren sie sicher auch Dinge, die man schnellstmöglich erlernt und nicht Jahre dafür braucht, bis man sie einsetzen kann.
Soweit hört es sich ja noch selbstverteidigungstauglich an …
Doch denk noch mal an den Selbstverteidigungsmythos Nr. 6 zurück (=Selbstverteidigung endet mit der Konfrontation an sich): Glaubst du wirklich, dass die Techniken, die das Militär einsetzt, unbedingt ziviltauglich sind?
Im Krieg musst du nicht danach fragen, ob das, was du gerade gemacht hast, wirklich notwehrrechtlich gedeckt ist.
In einer zivilen Selbstverteidigungssituation hast du aber in Wahrheit immer zwei Gegner: Den Aggressor und später die Zeugen bzw. den Richter.
(Allerdings gibt es auch militärische Nahkampfsysteme, die später ziviltauglich gemacht wurden. Als Beispiel ist hier vor allem das israelische Krav Maga zu nennen, das sich sicherlich gut zur Selbstverteidigung eignet.)
Mythos Nr. 10:
Polizisten sind die besten Selbstverteidigungslehrer
Kaum ist jemand Polizist, schon ist er auch Experte was Selbstverteidigung und Selbstschutz betrifft.
Unter Umständen kann das ja auch zutreffen, dass jemand Polizist UND Selbstverteidigungsexperte ist.
Die Regel ist das aber keineswegs. Die meisten Polizisten, die ich kenne, haben überhaupt keine Ahnung von effektiver Selbstverteidigung. Die meisten trainieren das ja auch nicht.
Okay, vielleicht ein paar Stunden in der Ausbildung. Und dann wird vielleicht einmal im Jahr trainiert, wie man zu zweit irgendeinen Strolch mit Hebeltechniken und Haltegriffen unter Kontrolle halten kann.
Zum Selbstverteidigungslehrer qualifiziert einen das aber nicht.
(Doch natürlich gibt es Polizisten, die so etwas drauf haben und auch gute Lehrer sind, was Selbstverteidigung betrifft. Nur darfst du nicht automatisch glauben, dass jemand das kann, nur weil er Polizist ist.)
P.S.
Nächste Woche erscheint ein Folgeartikel zu diesem Thema. Es geht dann um die größten Mythen in der Frauenselbstverteidigung.
Update: Der Artikel ist bereits erschienen: Gewalt gegen Frauen – 5 Täterklischees, die du endlich vergessen solltest
Foto: sibgat - clipdealer.com
Michael Lähndorf meint
Hi,
diesen Artikel zu lesen hat mir nicht nur Spaß gemacht sondern er wurde auch so ehrlich geschrieben, dass wirklich jeder versteht das man Selbstverteidigung regelmäßig trainieren muss und dennoch gefahr läuft eins auf die Nase zu bekommen. Klasse Beitrag wirklich!!! Danke
Gruß Michael Lähndorf
Martin Grünstäudl meint
Vielen Dank 🙂