Wenn man an Selbstverteidigung denkt, dann denkt man in der Regel an bestimmte Befreiungstechniken. Vielleicht hat man dabei auch vor Augen, wie man irgendwelche Angriffe abwehrt und dem Aggressor zwischen die Beine tritt.
Doch Fakt ist: Das macht nur einen sehr kleinen Teil echter Selbstverteidigung aus. Selbstverteidigung beginnt nämlich schon VOR einer physischen Auseinandersetzung und endet auch nicht mit dieser.
Aber der Reihe nach …
Das Ziel Nr. 1 in der Selbstverteidigung: Kampfvermeidung
Vermeidung bereits im Vorfeld: Die beste Selbstverteidigung ist die, einen Kampf von vornherein zu vermeiden. Dazu gibt es eine Reihe von Möglichkeiten:
- Bestimmte Plätze und Situationen meiden: Es ist vielleicht nicht so klug als Frau um 3 in der Früh allein eine dunkle Gasse in einer Großstadt entlangzuschlendern.
- Selbstbewusstes Auftreten: Täter suchen sich in der Regel Opfer und keine Gegner. Wer ein selbstbewusstes Auftreten an den Tag legt, ist daher deutlich weniger gefährdet angegriffen zu werden.
- Das Ego im Zaum halten: Wenn dich einer anpöbelt, dann ist es KEIN Ausdruck von Charakterstärke, wenn du dich darauf einlässt und Revierverhalten an den Tag legst …
- Davonlaufen: Davonzulaufen ist keine Schande. Im Gegenteil: Es gehört sogar viel Mut dazu, ist aber sehr oft die beste Entscheidung, die du treffen kannst. Ein Kampf zahlt sich nämlich in der Regel nie aus.
Achtsamkeit: Wenn man von Achtsamkeit spricht, dann denken viele vielleicht an Yogapraktizierende und an Meditierende im Lotossitz.
Dabei kann dir Achtsamkeit auch in punkto Selbstverteidigung viel bringen – vor allem was die Vermeidung von gefährlichen Situationen betrifft. Wenn du achtsam durchs Leben gehst, dann fallen dir auch potentielle Gefahrensituationen viel rascher auf und du kannst ihnen gekonnt aus dem Weg gehen.
Kampfvermeidungsstrategien: Bei aller Achtsamkeit und Vermeidung im Vorfeld: Es kann natürlich passieren, dass man in eine gefährliche Situation hineinschlittert.
Doch selbst dann muss es nicht unbedingt in einem ernsthaften Kampf enden. Sehr oft kann man sich durch Einreden auf den Aggressor und durch deeskalierende Gesten noch aus der Affäre ziehen.
Auch das sollte man daher im Selbstverteidigungstraining berücksichtigen.
Kämpfen als der letzte Ausweg
Nun kommen wir zu jenem Teil, der gemeinhin als Selbstverteidigung verstanden wird: der physische Kampf an sich.
Und nicht einmal das stimmt. Denn beim Kämpfen geht es nicht allein um das Physische. Auch die mentale Komponente sollte nicht unterschätzt werden. Sie spielt vielleicht sogar eine noch größere Rolle als technisches Können und irgendwelche Selbstverteidigungskniffe, die du gelernt hast.
Doch der Reihe nach …
Physische Vorbereitung: Ein Großteil des Selbstverteidigungstrainings bezieht sich in der Regel auf diesen Aspekt: Man möchte die Trainierenden auf einen physischen Kampf vorbereiten und zeigt ihnen Techniken und Tricks um eine Auseinandersetzung möglichst heil überstehen zu können.
Und natürlich ist dieser Aspekt der Selbstverteidigung auch sehr wichtig und sollte gründlich trainiert werden.
Doch Selbstverteidigungstraining darf hier nicht enden!
Mentale Vorbereitung: Das ist ein äußerst schwieriges Thema. Wie soll man sich mental auf eine brenzlige Situation vorbereiten, wenn man sich vielleicht noch nie in einer solchen befunden hat?
Aus meiner Sicht gibt es vor allem drei Möglichkeiten um sich mental vorzubereiten:
- Bewusstmachung: Jeder an der Selbstverteidigung Interessierte sollte das nötige Hintergrundwissen darüber haben, wie ein Kampf in der Regel abläuft, welche möglichen Bedrohungssituationen es gibt und was in einem vorgeht, wenn man sich in einer solchen Situation befindet (Stichwort Adrenalineinfluss, Tunnelblick, etc…).
- Training unter Stress: Ab einem gewissen technischen Niveau des Schülers / der Schülerin sollte auch unter Stresseinwirkung trainiert werden. Zum Beispiel indem man von seinem Trainingspartner immer wieder angegriffen wird, obwohl dieser schon mehrmals getroffen wurde.
- Achtsamkeitstraining und meditative Praxis: Es kommt nicht von ungefähr, dass viele asiatische Kampfkünste sehr stark auf meditative Übungen setzen. Meditation bringt die nötige Gelassenheit, die auch in einem Kampf sehr nützlich sein kann.
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Selbstverteidigung lernen – Schritt für Schritt
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Selbstverteidigungstraining berücksichtigt alle Arten von Bedrohungen
Viele haben ein falsches Bild von realen Selbstverteidigungssituationen. Die meisten glauben, dass die Vielzahl an Kämpfen außerhalb der Schlag- und Trittdistanz beginnt. Doch das trifft überhaupt nicht zu. Meistens befindet sich der Aggressor bereits in Schlagdistanz.
Der Ritualkampf: Der Ritual- oder auch Machokampf (ein Begriff, den vor allem WingTsun-Großmeister Keith R. Kernspecht geprägt hat) ist eine typische Bedrohungssituation, wenn du abends ausgehst und dich ein meist betrunkener Barbesucher aus heiterem Himmel anpöbelt und belästigt.
Wenn es bei der Belästigung bleibt, ist es auch nicht weiter schlimm. Doch oft genug artet es aus, weil man selbst nicht weiß, wie man sich in einer solchen Situation am besten verhalten soll.
Dabei gäbe es insgesamt vier Phasen im typischen Ritualkampf, in denen man etwas unternehmen kann um heil aus dem Schlamassel rauszukommen:
- die visuelle Phase: Es genügt schon jemanden zu lange anzusehen und daraufhin schüchtern zu Boden zu blicken, damit es losgeht.
- die verbale Phase: Meist fängt es mit bestimmten Machosprüchen an á la „Was schaust du so blöd? Willst du was auf die Fresse?“ Da ist es gut, sich im Vorfeld Antworten zu überlegen, die eine weitere Eskalation verhindern.
- die Schubs- und Greifphase: Spätestens jetzt solltest du einen so genannten Zaun zwischen dich und dem Aggressor aufbauen um dich vor Angriffen zum Kopf schützen zu können. Außerdem solltest du jetzt auch entweder deeskalierend (und auch für umstehende Zeugen hörbar) auf dein Gegenüber einreden bzw. deinerseits den Aggressor einschüchtern (was aber nur für Hartgesottene zu empfehlen ist)
- die Angriffsphase: Wenn alles andere nichts gebracht hat, dann ist es klug, selbst präventiv anzugreifen. Denn glaub mir: Einen Angriff abzuwehren, ist nicht so einfach wie man es in Filmen immer wieder sieht – schon gar nicht unter Adrenalineinfluss.
Der Überfall: Das ist eine besonders gefährliche Situation – vor allem weil man nicht damit rechnet und sich nicht einmal einen Sekundenbruchteil darauf einstellen kann.
Zum einen solltest du was das betrifft natürlich Selbstbefreiungstechniken trainieren. Du solltest wissen, was zu tun ist, wenn dich jemand würgt, umklammert und zu Boden reißt.
Außerdem ist es klug bestimmte Reaktionen einzutrainieren, die dich bestmöglich schützen, falls du aus heiterem Himmel von vorne oder von der Seite angegriffen wirst.
Doch bei allem Training in diesem Bereich ist zu sagen: Wirklich schützen davor kannst du dich nur mit Achtsamkeit (siehe weiter oben)
Duellkampf: Der Duellkampf ist genau das, was sich die meisten als typische Selbstverteidigungssituation ausmalen. Und dabei ist es jene Bedrohungssituation, die statistisch gesehen am unwahrscheinlichsten ist.
Will man aber alles abdecken, dann muss man sich natürlich auch damit befassen. Vor allem zu Beginn sollte dieses Training aber nicht allzu deutlich betont werden. Da ist es besser sich hauptsächlich auf Ritualkampf und Überfall vorzubereiten.
Kampf gegen mehrere: Das ist ein heikles Thema.
Was Selbstverteidigung betrifft, kann man sich nicht darauf verlassen, dass es fair abläuft und man sich nur einem Gegner gegenübersieht.
Sehr oft hat der andere eben auch Freunde dabei, die nur allzu schnell bereit sind, sich einzumischen. Und das besondere Problem dabei: Häufig ist das zu Beginn einer Konfrontation gar nicht erkennbar, wer zu wem gehört und sich eventuell einmischt.
Bedrohung mit Messer und anderen Waffen: Die Selbstverteidigung gegen Messer ist noch so ein heikles Thema. Und wiederum eines, mit dem man sich befassen sollte, wenn man Selbstverteidigung trainiert.
Ein Messer hat schnell mal jemand dabei. Und wenn man es mithat, dann ist man leicht verleitet, es auch zu ziehen und einzusetzen.
(Und das ist übrigens auch einer der Gründe, warum das Ziel Nr. 1 in der Selbstverteidigung die Kampfvermeidung ist. Du weißt nie, ob der andere nicht auch ein Messer bei sich trägt.)
Der Einsatz von Hilfsmitteln in der Selbstverteidigung
Selbstverteidigungstraining muss nicht unbedingt nur waffenloses Training beinhalten. Und dabei meine ich nicht, dass du selbst ein Messer mitführen solltest (Denn wie gesagt, wenn man ein Messer dabeihat, dann ist man auch verleitet es einzusetzen. Und der Richter wird dann darüber entscheiden, ob es wirklich nötig war.)
Ich meine damit eher Dinge wie einen Kubotan und improvisierte Waffen wie Schlüsselbund oder Regenschirm. Und es gibt auch noch andere nützliche Hilfsmittel wie z.B. einen Panikalarm.
Kubotan / Palmstick: Der Kubotan ist eine nützliche Waffe, die gesetzlich aber gar nicht als Waffe gilt. Vor allem kann der Kubotan prima als Schlagverstärker eingesetzt werden. Somit eignet er sich vor allem auch für schwächere Personen mit geringer Schlagkraft.
Pfefferspray: Der Einsatz von Pfefferspray ist ein eigenes Thema für sich. Er kann durchaus nützlich sein, doch wenn man ihn nicht richtig einzusetzen weiß (sprich es nicht geübt hat), dann kann er auch höchst kontraproduktiv sein.
Panikalarm: Beim Panikalarm muss man nur kurz den Stecker ziehen und er macht einen Höllenlärm. Prima geeignet also um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Alltagsgegenstände wie z.B. ein Regenschirm: Wenn man es hinreichend trainiert, dann können auch Alltagsgegenstände zur Waffe werden. Selbst Dinge wie Schlüsselbund, Handy, Bücher und ein Schal können dazu genutzt werden.
Selbstverteidigung endet erst vor Gericht
In der Selbstverteidigung hat man noch ein zusätzliches Problem: Der Kampf endet nicht unbedingt mit dem eigentlichen physischen Kampf. Unter Umständen geht der Kampf vor Gericht weiter.
Notwehrrecht beachten: Wenn dich jemand angreift, dann musst du laut Notwehrrecht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel achten. Das bedeutet, dass du einem Betrunkenen, der dich nur mal anpöbelt, nicht unbedingt gleich niederschlagen darfst.
Auch muss laut geltendem Notwehrrecht mit der Notwehr aufgehört werden, sobald die Gefahr vorüber ist. Im Klartext bedeutet dies, dass du nicht auch noch auf den am Boden liegenden eintreten darfst.
Zeugen berücksichtigen: Der größte Feind in Auseinandersetzungen sind häufig die Zeugen. Die sehen nämlich in der Regel nicht alles, haben nicht alles mitangehört oder erinnern sich vielleicht auch nicht mehr genau an die Auseinandersetzung.
Und das besondere Problem an dem Ganzen:
Für viele ist das Opfer jener, der am Boden liegt.
Selbst wenn du also in Notwehr jemanden niederstreckst, müssen das die anderen nicht auch so sehen. Vielleicht bist ja in ihren Augen DU der Aggressor.
(Und damit sind wir erneut bei der Regel Nr. 1 in punkto Selbstverteidigung angelangt: Kämpfe nie, wenn du einen Kampf vermeiden kannst.)
P.S.
Wenn du an effektiver Selbstverteidigung interessiert bist, dann ist unsere dreiteilige Miniserie „Selbstverteidigung: 33 Regeln für deine Sicherheit“ ein guter Start für dich.
Foto: MAXPICS - clipdealer.com
Fabian Wüst meint
Gerade das Thema Zeugen ist da so eine Sache. Damit habe ich schon oft „interessante“ Erfahrungen gemacht. Ich arbeite beim Bahnschutz und wurde dort mit einem Nietengürtel angegriffen. Natürlich habe ich im Rahmen der Notwehr reagiert und den Angreifer schließlich am Boden mit Handschellen fixiert. Mehrere Kameras haben das Geschehen gefilmt. Wie ich anmerken muss, das war das Beste!
Was manche Zeugen später bei der Polizei ausgesagt haben, war hahnebüchen. Oft waren wir die Bösen aufgrund der Fixierung. Er hat mehrfach beide von uns angegriffen. Es gab keine andere Lösung. Daher ist Deeskalation, solange es geht, immer die beste Wahl. Da hast du völlig Recht. Und gut, dass du das ganze ansprichst.
Martin Grünstäudl meint
Hallo Fabian,
danke für deinen Kommentar. Sicherheitsleute stehen da sicher noch vor einem größeren Problem als Zivilpersonen. Speziell Polizisten beneide ich da überhaupt nicht, wenn sie einen Aggressor fixieren müssen und dann vielleicht Probleme bekommen weil ein Video auf Facebook erscheint, dass sie als zu brutal darstellt. Darauf sieht man auch nie, wie es überhaupt so weit kam.
Viele Grüße
Martin