Wenn wir uns hier schon auf einem Kampfkunst-Blog tummeln, dann sollten wir vielleicht mal klären, was Kampfkunst überhaupt ist ????
Wichtig ist dabei zu verstehen, dass Kampf-kunst nicht dasselbe ist wie Kampf-sport, auch wenn es umgangssprachlich in der Regel gleichgesetzt wird.
Und nicht nur das: Kampfkunst ist auch nicht unbedingt gleichzusetzen mit Selbstverteidigung. Im Gegenteil.
Aber der Reihe nach …
Kampfkunst ≠ Kampfsport
Kampfkunst ist nicht gleichzusetzen mit Kampfsport. Es gibt einige wesentliche Unterschiede:
#1. In der Kampfkunst gibt es im Unterschied zum Kampfsport keine Wettkämpfe. Es wäre auch sehr gefährlich und würde sicher oft in schweren Verletzungen – wenn nicht sogar in Todesfällen – resultieren, wenn es Wettkämpfe gäbe.
Der Grund dafür ist einfach erklärt:
Eine Kampfkunst kennt keine Regeln. Es ist alles erlaubt inklusive Genitaltritte, Schläge zum Hals und sogar Augenstiche.
Man könnte nun vielleicht einwenden, dass man diese Dinge halt weglassen könnte. Doch was würde noch übrigbleiben?
Und vor allem: Es wäre aus Wettkampfsicht sehr ineffizient, wenn man diese Dinge trotzdem trainiert, wenn sie dann in einer Wettkampfsituation sowieso nicht mehr erlaubt sind.
#2. Sport dient der geistigen Zerstreuung, Kampfkunst hingegen erfordert Konzentration.
Wie oft habe ich das im Training schon gehört, dass die Schüler nicht mehr können, weil ich sie bei einer Übung wieder mal an den Rand ihrer Konzentrationskapazität gebracht habe – vor allem nach einem harten Arbeitstag.
Kampfkunst ist meist körperlich viel weniger anstrengend – und vor allem schweißtreibend – als wenn du zum Beispiel Boxen oder Grappling trainierst.
Aber die geistige Beanspruchung ist dafür sehr oft um ein Vielfaches höher. Und das ist meist ebenso fordernd.
#3. Ausdauer und Kraft stehen in der Kampfkunst nicht im Mittelpunkt. Deshalb gibt es im Training in der Regel auch kein extra Kraft- und Ausdauertraining wie zum Beispiel Seilspringen oder Liegestütze, wie man es aus vielen Kampfsportarten kennt.
Sehr häufig gibt es – wie unter anderem im Wing Chun – noch nicht mal ein Aufwärmen.
#4. In der Kampfkunst wird meist auch der Einsatz von Waffen geübt. Zu welchem Zeitpunkt dies geübt wird, ist allerdings von Kampfkunst zu Kampfkunst extrem unterschiedlich.
In den Filipino Martial Arts wie Kali und Escrima beginnt man bereits von der ersten Stunde an, mit Waffen zu trainieren. Dort ist sogar das waffenlose Training nachgelagert bzw. wird in vielen Fällen sogar stark vernachlässigt.
In vielen anderen Kampfkünsten allerdings beginnt man mit waffenlosem Training. Mit Waffen trainieren dann meist erst die weit Fortgeschrittenen.
#5. Im Kampfsport kämpft man Mann gegen Mann (oder Frau gegen Frau). In der Kampfkunst allerdings beschränkt man sich nicht allein darauf.
In der Regel übt man sogar den Kampf gegen mehrere Gegner gleichzeitig (zumindest als Fortgeschrittener).
#6. Und damit nicht genug: Es gibt in der Kampfkunst auch keine Gewichtsklassen wie im Kampfsport üblich. Es kann also passieren, dass eine 50-Kilo Frau mit einem 120-Kilo Mann trainiert.
Kampfkunst ≠ Selbstverteidigung
Kampfkunst ist auch keineswegs gleichzusetzen mit Selbstverteidigung – auch wenn dir das viele Kampfkunstlehrer weismachen wollen.
#7. Zum einen ist nämlich der Trainingsaufbau nicht optimal aus einem Selbstverteidigungsblickwinkel heraus betrachtet.
Nehmen wir als Beispiel das Wing Chun (bzw. Wing Tsun oder wie auch immer die Schreibweise des jeweiligen Stils ist). Dort ist es üblich, dass man zu Beginn Formen trainiert wie zum Beispiel die Siu Nim Tao als traditionell erste Form, die man im Wing Chun lernt.
Das Formentraining hat einen nicht zu vernachlässigenden Nutzen für den Trainierenden. Das Problem dabei ist nur, dass es sehr sehr lange dauert, bis dieser Nutzen zu Tage tritt.
In der Regel dauert es einige Jahre, bis sich das viele Formentraining endlich merkbar auswirkt.
Für manche Trainierende, die beim Formentraining nie wirklich bei der Sache sind, wirkt es sich sogar nie aus.
Und genau aus diesem Grund haben Formen in einem reinen Selbstverteidigungstraining eigentlich nichts zu suchen.
#8. Es geht in der Kampfkunst nicht nur um das Kämpfen an sich, sondern auch um Persönlichkeitsentwicklung, Selbstfindung und Selbstvervollkommnung.
In der Tat tritt die Selbstverteidigungsfähigkeit sogar in den Hintergrund.
Es geht vor allem darum, nicht andere, sondern sich selbst zu besiegen – und all seinen Hass, Neid und seine Ängste.
(Allerdings ist dies ein Aspekt, der bei uns in Europa leider etwas in den Hintergrund gerückt ist.)
Weitere wichtige Charakteristika von Kampfkünsten
Neben den offensichtlichen Unterschieden zu Kampfsportarten und zur reinen Selbstverteidigung gibt es noch ein paar Charakteristika, die alle Kampfkünste teilen:
#9. Wichtiger als Techniken sind Prinzipien und Konzepte. Techniken und Drills stehen meist nur zu Beginn im Vordergrund, da der Anfänger irgend etwas braucht, an das er sich festhalten und mit nach Hause nehmen kann.
Mit der Zeit rücken Techniken allerdings immer mehr in den Hintergrund. Dann stehen ganz klar Prinzipien und Konzepte im Vordergrund. Der Trainierende lernt, sich an den Gegner anzupassen und frei von irgendwelchen fixen Regeln zu werden.
„Das Zeichen großer Kunst ist Mühelosigkeit.“ – Alberto Moravia
#10. In der Kunst drücken sich Menschen in kreativer Weise aus. Es ist nicht ungewöhnlich zwei hohe Meister ein und derselben Kampfkunst zu beobachten und dabei als Außenstehender den Eindruck zu bekommen, dass es sich um zwei verschiedene Kampfkünste handelt.
Mit der Zeit entwickelt eben jeder seinen eigenen „Stil“, will heißen, seine eigene Art und Weise sich zu bewegen und auf die Aktionen des anderen zu reagieren. Einzig die Prinzipien und Konzepte sind noch dieselben.
#11. Es geht viel um Selbstdisziplin und mehr um den Weg als um das Ziel.
„Der Weg ist das Ziel.“ – Konfuzius
Das war ursprünglich die oberste Maxime in den Kampfkünsten – doch es ist mehr und mehr in Vergessenheit geraten.
Ich finde das sehr schade, denn ich persönlich finde es immer wieder sehr bereichernd Neues in der Kampfkunst zu entdecken, mit Gleichgesinnten zu trainieren und zu sehen, dass auf einmal Dinge funktionieren, die vor einem Jahr noch undenkbar waren.
Das ist auch der Grund, warum ich nach wie vor immer wieder gerne auf der „anderen Seite“ des Trainingsraumes stehe und immer wieder gerne Schüler bin und auch Seminare besuche.
Trainer zu sein ist total lohnenswert in meinen Augen, doch Schüler zu sein ist genauso genial 🙂
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Foto: kuco - clipdealer.com
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