Selbst wenn du erst seit kurzem Wing Chun machst, so wirst du sicherlich bereits vom Chi Sao gehört haben.
Denn das Chi Sao – auf Deutsch „Klebende Hände“ – steht ganz klar im Zentrum dieser faszinierenden chinesischen Kampfkunst. Und das trifft umso mehr zu, je Fortgeschrittener du wirst.
(Übrigens: Was Wing Chun genau ist, kannst du hier nachlesen. Und wir haben auch einen gratis Überblickskurs dazu veröffentlicht um mal reinschnuppern zu können.)
Doch die Frage ist jetzt: Was ist dieses Chi Sao genau und was bringt es uns für einen Nutzen? Und vor allem auch: Wie kann man Chi Sao trainieren und was sollte man beachten?
Antworten zu diesen Fragen bekommst du, wenn du weiter liest … 😉
Chi Sao – Was ist das?
Viele meinen, das Chi Sao sei die Seele des Wing Chun.
Genauer gesagt ist das Chi Sao aber nur einer von drei Bereichen, die du im Wing Chun trainierst:
#1 Das Formentraining:
Der erste Bereich ist nämlich das Formentraining. Dort übst du erstmal ganz für dich allein. Du lernst als erstes richtig zu stehen und von diesem stabilen Stand aus deine Arme und deinen Oberkörper anzusteuern und zu koordinieren. (Damit meine ich die erste Form im Wing Chun, auch genannt Siu Nim Tao)
Später fügst du in einer weiteren Form (= die zweite Form im Wing Chun, auch genannt Cham Kiu) Wendungen und Schritte hinzu. Und du führst nun auch Tritte nach vor, zur Seite und nach hinten aus. Dabei lernst du vor allem, Unter- und Oberkörper zu koordinieren und als eine Einheit zu benutzen.
Schlussendlich lernst du dich in der dritten Form (= Biu Tze) noch freier zu bewegen und baust dadurch unter anderem eine enorme Power und Dynamik auf.
(Weitere Details zu wichtigen Begriffen im Wing Chun kannst du hier nachlesen.)
Doch wie gesagt: Beim Formentraining beschäftigst du dich erstmal nur mit dir selbst. Du trainierst hier also ganz allein und noch ohne Trainingspartner.
Das ändert sich im Chi Sao Training, was bereits der zweite Bereich deines Trainings im Wing Chun darstellt:
#2 Das Chi Sao:
Nun trainierst du also mit Trainingspartner. Zuerst mal nur mit einer Hand und aus dem Basisstand (= IRAS) heraus und noch ohne Wendung.
Mit der Zeit und zunehmendem Können fügst du dann auch noch Wendungen hinzu und du trainierst das schlussendlich mit beiden Armen gleichzeitig.
Der Sinn hinter dem Chi Sao ist es, Druckrichtungen des Gegners erspüren zu lernen. Denn im Nahkampf ist es sehr gefährlich, sich bloß auf seine optischen Reflexe – sprich auf seine Augen zu verlassen.
Denn dieses optische Reagieren hat zwei große Schwächen:
- Es ist mitunter zu langsam, wenn der Gegner sehr schnell zuschlägt und du bereits sehr nahe bist.
- Es ist sehr anfällig für Finten und Täuschungsmanöver. Wenn dein Gegner kein Anfänger ist, gelingt es ihm mitunter leicht dich zu täuschen und du hast dann keine Chance mehr um richtig zu reagieren.
Doch das taktile Reagieren via Tastrezeptoren in der Haut (was wir ja im Chi Sao trainieren) umschifft genau diese zwei Schwächen:
- Taktile Reflexe sind viel schneller als optische.
- Zudem sind taktile Reflexe bei entsprechendem (Chi-Sao-) Training NICHT anfällig für Finten und Täuschungsmanöver. Du lernst also die Intention deines Gegners ganz genau und blitzschnell zu erspüren und kannst dadurch auf eine bessere Art und Weise reagieren. Du weißt gewissermaßen bereits was er vorhat, noch bevor er die Bewegung komplett ausgeführt hat.
Und deshalb trainieren wir so viel Chi Sao im Wing Chun. Es gibt uns nämlich einen enormen Vorteil im Nahkampf.
Das einzige Problem dabei: Wir müssen erstmal Kontakt mit den gegnerischen Armen aufnehmen können. Doch dafür haben wir den dritten Bereich im Wing Chun, nämlich das Lat Sao:
#3 Das Lat Sao:
Das Lat Sao ist das eigentliche Ziel im Wing Chun. Die Formen und das Chi Sao sind gewissermaßen nur Zwischenziele zu unserem übergeordneten Ziel mithilfe von Wing Chun kämpfen zu können.
Lat Sao bedeutet nämlich übersetzt so viel wie „Freikampf“. Der Unterschied zum Chi Sao ist hier, dass wir (in der Regel) noch nicht in Kontakt mit den gegnerischen Armen sind, sondern diesen erst herstellen müssen.
Denn unsere eigentlich Stärke im Wing Chun – das taktile Reagieren im Nahkampf – können wir erst ausspielen, wenn es uns gelungen ist, diesen Kontakt herzustellen.
Und genau aus diesem Grund ist es auch gefährlich, das Lat Sao zu vernachlässigen (was meiner Erfahrung nach sehr häufig passiert, wenn man bereits sehr fortgeschritten ist im Wing Chun und die Schülergrade bereits hinter sich gelassen hat).
Denn auch wenn das Chi Sao sozusagen die Seele ist des Wing Chun – ohne Fähigkeiten im Lat Sao ist es zumeist wertlos. Wir brauchen einfach alle drei Bereiche im Wing Chun. Nichts davon sollte vernachlässigt oder gar übersprungen werden. (Obwohl man Formen anfangs theoretisch weglassen könnte. Aber richtig gut und zum Meister wird man auf Dauer nur, wenn man ALLES trainiert.)
Was lernt man konkret im Chi Sao?
Wir haben bereits geklärt, dass wir mit dem Chi Sao die Druckrichtungen und damit die Intentionen des Gegners zu erspüren lernen.
Und das ist uns sowohl in der Abwehr als auch im Angriff nützlich:
#1 Chi Sao in der Abwehr:
Hat uns der Gegner zum Beispiel angegriffen – und uns ist es gelungen mit unserem Handgelenk Kontakt aufzunehmen – dann erspüren wir ganz genau, wo der Gegner hin schlägt. Und das ist erstmal die Basis, um überhaupt erfolgreich abwehren zu können.
Nun können wir einerseits dafür sorgen, dass wir weg sind. Sprich: Wir sind einfach nicht dort, wo der Schlag hingeht, indem wir ausweichen und uns wegdrehen.
Oder wir können andererseits den Schlag ablenken – ihm sozusagen eine andere Richtung geben.
Und das Ganze machen wir im Wing Chun nicht mit Kraft, sondern wir leiten den Angriff geschickt ab. Dies machen wir entweder keilförmig oder als Fortgeschrittener auch kreisförmig.
Das Resultat ist dasselbe: Der Gegner fährt ins Leere und wir können gefahrlos angreifen. (Natürlich schreibt sich das jetzt leichter als es tatsächlich ist. Da gehört viel Training dazu.)
#2 Chi Sao im Angriff:
Doch das Chi Sao ist uns auch im Angriff sehr nützlich. Denn wenn wir angreifen, dann wird natürlich unser Gegner dafür sorgen, nicht getroffen zu werden. Unter Umständen wird er also unseren Schlag erfolgreich blocken können.
Uns sollte das aber egal sein, wenn wir bereits über gute Fähigkeiten im Chi Sao verfügen. Denn wir erspüren dadurch sofort, ob der Weg frei ist und wir also gefahrlos angreifen können – oder eben erstmal nur in Kontakt bleiben sollten ohne anzugreifen.
Trifft letzteres zu, dann bleiben wir nämlich kleben und ziehen unsere Hand NICHT gleich wieder zurück. Und wir haben einen leichten Vorwärtsdruck auf die Zentrallinie des Gegners. Denn durch diesen leichten Druck spüren wir sofort, wenn der Weg frei ist und wir nach vor stoßen können (was übrigens ein sehr sehr wichtiges Prinzip ist im Wing Chun).
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Hier ein kurzes Video zum Thema Vorwärtsdruck im Chi Sao:
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Liefert uns der Gegner aber keine Möglichkeit um gefahrlos nach vor zu stoßen, so können wir natürlich wieder manipulierend tätig werden bzw. uns mit der anderen Hand den Weg frei räumen. Hierzu sagt man oft auch Trapping und der Übergang ins Lat Sao ist mitunter fließend.
Wie trainiert man Chi Sao?
Im traditionellen Wing Chun ist der Weg ganz klar vorgezeichnet. Doch daneben gibt es auch allerhand weitere – mitunter moderne – Methoden um seine taktilen Fähigkeiten aufbauen zu können.
#1 Das traditionelle Chi Sao Training:
In den meisten Wing Chun Verbänden beginnt man im dritten Schülerprogramm mit dem Chi Sao (falls dich die Schülergrade näher interessieren: Hier habe ich ein Video veröffentlicht, wo ich die 12 Schülergrade vorstelle).
Dabei startet man mit dem so genannten Dan Chi, also dem einarmigen Chi Sao. Der Vorteil hierbei ist, dass man sich erstmal nur auf jeweils eine Hand konzentrieren kann und somit keine zweite Hand mit koordinieren muss, was deutlich schwieriger wäre. Außerdem macht man hier in der Regel auch noch keine Wendungen und Schritte, sondern trainiert das Ganze aus dem IRAS heraus.
Mit dem vierten Schülergrad beginnt man aber meist schon damit, zusätzlich Wendungen und Schritte einzubauen. Aber man bleibt noch dabei, alles ausschließlich mit einer Hand zu trainieren.
Der nächste Schritt ist dann das Poon Sao, das man meist mit dem fünften Schülergrad trainiert. Als Poon Sao bezeichnet man das zweiarmige Chi Sao, wobei traditionell die linke Hand außen und die rechte Hand innen ist. Doch im Prinzip kann man es (und sollte es meiner Meinung nach) hin und wieder auch umgekehrt trainieren bzw. auch dergestalt, dass man mit beiden Händen innen oder mit beiden Händen außen ist.
In dieser Phase trainiert man erstmal nur das „Rollen“. Erst mit der Zeit trainiert man auch Angriffe aus diesem „Rollen“ heraus bzw. man fängt damit an, Angriffe seines Trainingspartners abzuwehren und zu kontern.
Sehr häufig folgen dann die sogenannten Chi Sao Sektionen. Dabei handelt es sich um fixe Abläufe, die man mit Trainingspartner übt.
Die Sektionen sind vor allem dazu da, um das ganze Spektrum an Techniken erlernen zu können. Und sie sind vor allem eine prima Erinnerungshilfe, um wirklich ALLES zu trainieren im Wing Chun und nichts auszulassen.
#2 Das moderne Chi Sao Training:
Ich finde aber man sollte seine taktilen Fähigkeiten nicht bloß durch traditionelles Chi Sao Training entwickeln. Denn in der Gehirnforschung ist man längst drauf gekommen, dass wir viel schneller lernen, wenn wir es variantenreich tun.
Denn unser Gehirn schafft es oftmals nicht, etwas Gelerntes auf eine andere Domäne zu übertragen. Sprich: Die taktilen Fähigkeiten im Poon Sao sind oft nicht auf das Lat Sao übertragbar, da der Sprung einfach viel zu groß ist. Man braucht sozusagen Zwischenschritte.
Doch zum Glück verfügen wir auch über modernere Methoden des Chi Sao Trainings.
Wir haben zum Beispiel das ReakTsun von Großmeister Keith Kernspecht, das ich auch in unserem Mitgliederbereich für Wing Chun vorstelle. Dabei können wir die taktilen Reaktionen vorerst aus bestehendem Unterarmkontakt trainieren und später auch ohne (da sich das natürlich etwas anders anfühlt).
Und es gibt beispielsweise das Trapping, das vor allem Bruce Lee mit seinem Jeet Kune Do berühmt gemacht hat. Dazu haben wir sogar einen eigenen Onlinekurs veröffentlicht. (Falls du dich dafür interessierst, kannst du dir hier 50% Rabatt sichern.)
#3 Chi Sao und Inneres Wing Chun:
Mittlerweile ist vor allem bei uns in Europa das so genannte Innere Wing Chun populär geworden.
Der Unterschied ist in punkto Chi Sao vor allem der, dass man im traditionellen Chi Sao auf den Druck des Gegners reagiert. Im inneren Chi Sao möchte man den Gegner aber noch weiter kontrollieren. Das Ziel ist es ihn komplett steuern zu können, indem man ihn zwingt am Punkt kleben zu bleiben.
Man geht sozusagen vom eigenen Inneren aus und zwingt dem Gegenüber gewissermaßen seinen Willen auf. Doch man macht dies nicht mit Kraft – zumindest nicht mit Muskelkraft. Vielmehr stellt man durch Ansteuerung von Muskeln, Sehnen und Gelenken sicher, dass sich der Gegner wie eingesperrt und quasi paralysiert fühlt.
Man könnte gewissermaßen sagen, das innere Chi Sao ist ein Chi Sao 2.0
Ich beschäftige mich im Moment sehr stark damit. Und sobald ich soweit bin, es dir verständlich und zur Gänze vermitteln zu können, werde ich dich natürlich daran teilhaben lassen 😉
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Doch zuerst sollte man sich im Inneren Wing Chun sowieso mit Solotraining beschäftigen um die nötigen Grundlagen aufzubauen. Ein Beispiel dafür ist die Übung „Stehen wie ein Baum“:
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P.S.
Hier noch ein paar Tipps für´s Training von freiem Chi Sao:
Viel Spaß also noch bei deinem Chi Sao Training!
Und falls du irgendwelche Anmerkungen oder Fragen hast, dann nutze doch die Kommentarfunktion 😉
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