Bei uns in Europa unterscheidet man im Wing Chun / Wing Tsun üblicherweise zwischen den Schülergraden und den Höheren Graden (bei vielen Verbänden auch Technikergrade genannt).
In der Regel gibt es 12 Schülergrade, wobei jeder dieser Schülergrade ein bestimmtes Hauptthema hat. Und das wollen wir in der Folge etwas genauer beleuchten …
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Exkurs: Unterschiedliche Schreibweisen
Wenn du schon eine Weile Wing Chun machst, dann wird dir wahrscheinlich aufgefallen sein, dass es gefühlt wohl hunderte unterschiedliche Schreibweisen dafür gibt. Wenn man Wing Chun schreibt, dann meint man damit in der Regel den Oberbegriff. Damit ist also Wing Chun generell gemeint.
Eine sehr häufige Schreibweise ist auch noch Wing Tsun, da sich der aktuell größte Verband eben genauso nennt – die Rede ist von der EWTO, der Europäischen Wing Tsun Organisation.
Daneben gibt es noch viele weitere Schreibweisen, da sich fast jeder Verband von den anderen abheben will. Beispiele sind Ving Tsun, Wing Tzun und noch viele mehr …
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Der rote Faden in den Schülerprogrammen
Natürlich steht es jedem Wing-Chun-Verband frei, den Aufbau seiner Schülergrade selbst zu bestimmen. Und es müssen auch nicht immer genau 12 Schülergrade sein.
Es gibt daher Verbände, wo es nur 8 oder 10 solche Schülerprogramme gibt. Doch wie auch immer sie genau aufgeteilt sind – es werden im Großen und Ganzen die folgenden Inhalte abgedeckt:
Die erste Phase: Die Grundstufe
Zu Beginn verfügt der Schüler noch über keinerlei optische und taktile Fähigkeiten. Jetzt wäre es daher falsch, den Schüler erstmal abwarten und ihn oder sie bloß auf die Aktionen des Gegners reagieren zu lassen.
Die einzige Chance, die ein Schüler in dieser Phase hat, ist präventiv anzugreifen und damit den Aggressor unschädlich zu machen.
Und genau darum geht es in den ersten vier Schülergraden im Wing Chun: Wir lernen hier anzugreifen – vor allem mittels geradem Tritt, Kettenfauststößen und Pak Sao bzw. Lap Sao Fauststoß.
Der 1. Schülergrad im Wing Chun:
Der Schüler lernt präventiv anzugreifen – frei nach dem Motto „Angriff ist die beste Verteidigung“. Dabei gehen wir hier nicht davon aus, dass uns der Gegner stört. Vielmehr nehmen wir an, dass unser Vorhaben gelingt und wir den Kampf vorzeitig beenden können.
Beispielhafte Inhalte:
- Kettenfauststöße
- Pak Sao Zyklus
- Techniken zur Selbstverteidigung (wie z.B. Würgebefreiungen)
- Grundtechniken (z.B. IRAS, Verfolgungsschritt etc.)
- Formentraining (die erste Hälfte der Siu Nim Tao)
Der 2. Schülergrad im Wing Chun:
Die Headline zum zweiten Schülergrad könnte ihn etwa „erweiterte Vorwärtsverteidigung“ lauten. Im Grunde machen wir hier nämlich noch dasselbe wie im Programm zum ersten Schülergrad – wir beschäftigen uns mit präventiven Angriffen.
Allerdings gehen wir nun etwas darüber hinaus, indem wir einerseits unser Angriffsrepertoire erweitern. Andererseits lernen wir nun alles auch auf der anderen Seite und wir werden nun erstmals etwas gestört in unserer Aktion – sprich: der Gegner versucht unsere Angriffe zu blocken.
Beispielhafte Inhalte:
- weitere Grundtechniken (z.B. Z-Schritt und Angriff aus der Flanke)
- Erweiterung des Pak Sao Zyklus (z.B. Seitenwechsel)
- Weitere Techniken zur Selbstverteidigung (z.B. blockt der Gegner meinen präventiven Angriff)
- Abschluss der kompletten Siu Nim Tao
Der 3. Schülergrad im Wing Chun:
Nun ist es soweit: Wir gehen davon aus, dass unsere Angriffe geblockt und damit vereitelt werden. Doch natürlich wollen wir uns davon nicht beirren lassen. Wir reagieren blitzschnell und können so den Kampf trotzdem für uns entscheiden.
Ein weiteres Hauptthema ist nun auch, dass wir lernen, einen gewendeten Stand einzunehmen. Dies bereitet uns auf die folgenden Schülerprogramme vor, wo wir dann annehmen, dass uns der Gegner angreift (wir also nicht mehr präventiv angreifen um den Kampf vorzeitig zu beenden).
Beispielhafte Inhalte:
- Meine Kettenfauststöße werden geblockt
- Mein Fauststoß wird geblockt – ich reagiere mit Bong Sao und Rückfaust
- Der Gegner schubst mich
- Dan Chi (= einarmiges Chi Sao)
- Das erste Drittel der Cham Kiu (= die zweite Form im Wing Chun)
Der 4. Schülergrad im Wing Chun:
Nun nehmen wir an, dass uns der Gegner zuvorgekommen ist und uns bereits angreift – wir also nicht mehr die Möglichkeit haben, selbst präventiv anzugreifen.
Sehr wichtig dabei ist, dass wir die Wendung gut beherrschen (welche wir bereits im dritten Schülerprogramm gelernt haben). Nun kombinieren wir diese Wendung mit Abwehrtechniken wie dem Tan Sao.
Beispielhafte Inhalte:
- Abwehr von runden Angriffen wie z.B. dem Sucker Punch
- Runde Angriffe in den Pak Sao Zyklus und in das Selbstverteidigungstraining einbauen
- Trittabwehr gegen geraden Tritt und Rundtritt
- Dan Chi mit Wendung
- Zweites Drittel der Cham Kiu
Die zweite Phase: Die Mittelstufe
In der Mittelstufe hat der Schüler bereits grundlegende optische und taktile Fähigkeiten aufgebaut. Deshalb trainiert man jetzt nicht mehr nur den präventiven Angriff (obwohl dies natürlich nach wie vor die beste Strategie im Ernstfall ist). Vielmehr nehmen wir jetzt an, dass uns der Gegner angreift und wir darauf reagieren müssen.
Im Unterschied zum vierten Schülergrad (in dem wir bereits mit diesem Reaktionstraining begonnen haben) befindet sich der Gegner schon sehr nahe bei uns. In den Schülergraden 5 bis 8 beschäftigen wir uns nämlich nicht nur mit der Abwehr von Tritten und Faustschlägen, sondern wir setzen uns auch mit Ellbogen- und Knieangriffen sowie mit Ringerangriffen und Bodenkampftechniken auseinander.
Doch der Reihe nach …
Der 5. Schülergrad im Wing Chun:
Nun ist uns der Gegner schon sehr nahe und versucht uns mit Ellbogen- und Knieangriffen zu attackieren. Und diese Angriffe sind wirklich sehr gefährlich! Grund genug, dies alles gründlich zu trainieren.
Außerdem betonen wir ab jetzt immer stärker das Chi Sao im Wing Chun – also unsere taktilen Reaktionsfähigkeiten. Der Vorteil von taktilen Reflexen gegenüber optischen ist nämlich der, dass sie weit weniger anfällig sind für Finten und Täuschungsmanöver. Und zudem kann ich taktil viel schneller reagieren als optisch (vorausgesetzt natürlich, ich habe dies gründlich trainiert).
Beispielhafte Inhalte:
- Ellbogenprogramme im Pak Sao Zyklus
- Abwehr von Ellbogenangriffen im Selbstverteidigungstraining
- Ich lerne selbst auch mittels Ellenbogen anzugreifen
- Poon Sao (= zweiarmiges Chi Sao) mit Wendungen und Schritten
- Abschluss der Cham Kiu
Der 6. Schülergrad im Wing Chun:
Der Gegner kommt nun noch näher und möchte mich mittels Umklammerung aus dem Gleichgewicht bringen bzw. versucht, mich in einen Würgegriff zu nehmen.
Sehr oft beginnt man im sechsten Schülerprogramm mit dem Sektionstraining. Sektionen sind fixe Abläufe im Chi Sao, die uns ein reichhaltiges Repertoire an Abwehren und Angriffen liefern. Und sie lehren uns auch die richtigen Winkel und Positionen.
Beispielhafte Inhalte:
- Abwehr von Würgetechniken im Selbstverteidigungstraining
- Abwehr von einfachen Ringerangriffen
- Beginn der ersten Sektion Chi Sao
- Grundlagen im Chi Gerk
Der 7. Schülergrad im Wing Chun:
Nun möchte uns der Gegner zu Boden bringen. Einerseits versucht er uns umzustoßen und andererseits möchte er uns umreißen und mit zu Boden gehen. Das heißt, er möchte den Kampf auf den Boden verlagern.
Da Wing Chun vor allem eine Kampfkunst ist, die seine Vorzüge im Faustkampf hat, wollen wir es um jeden Preis vermeiden, zu Boden zu gehen. Und genau darum handelt dieses siebente Schülerprogramm.
Beispielhafte Inhalte:
- Abwehr von Ringerangriffen und Takedownversuchen
- Lernen, selbst einen Takedown auszuführen
- Abwehr von Ringerangriffen in den Pak Sao Zyklus einbauen
- Zweites Drittel der ersten Sektion Chi Sao
Der 8. Schülergrad im Wing Chun:
Jetzt nehmen wir an, dass es dem Gegner gelungen ist, uns zu Boden zu befördern.
Dabei sehen wir uns zwei unterschiedliche Dinge an: Einerseits liegen wir am Boden und der Gegner steht. Wir trainieren also, ihn nicht an uns ranzulassen und vor allem auch schnell wieder aufzustehen.
Andererseits lernen wir hier Techniken um uns am Boden zu verteidigen, wenn der Gegner mit zu Boden gegangen ist. Wir verlassen uns dabei aber nicht nur auf Grapplingtechniken, sondern versuchen genauso wie im Stand zu schlagen und zu treten.
Beispielhafte Inhalte:
- Richtiges Fallen und Bewegen am Boden üben
- Verteidigung vom Boden aus
- Abschluss der ersten Sektion Chi Sao
Die dritte Phase: Die Oberstufe
Nun beginnen die Spezialprogramme im Wing Chun. Denn die „normale“ Kampfsituation in allen Distanzen haben wir bereits in den ersten acht Schülergraden gelernt (natürlich gehört das noch weiterhin verbesssert).
Jetzt wird es Zeit, sich mit Spezialthemen zu befassen. Genauer gesagt geht es jetzt um die Abwehr von Waffen, um die Verteidigung gegen mehrere Angreifer und um Hebeltechniken …
Der 9. Schülergrad im Wing Chun:
Der neunte Schülergrad steht ganz im Zeichen von Stock- und Messerangriffen. Einerseits lernst du ein bisschen damit umzugehen. Aber vor allem lernst du hier, dich gegen Angriffe mit dem Stock bzw. dem Messer zu verteidigen.
Natürlich ist dies ein besonders heikles Thema und es gehört sehr viel Training dazu, um realistisch eine Chance zu haben. Deshalb sollte dieses Programm sehr gründlich trainiert werden.
Beispielhafte Inhalte:
- Grundschläge mit dem Stock
- Grundschnitte mit dem Messer
- Verteidigung gegen Angriffe mit dem Stock
- Verteidigung gegen typische Angriffe mit dem Messer
- Kuen-To-Boxform ohne Wendung
Der 10. Schülergrad im Wing Chun:
Das Hauptthema im zehnten Schülerprogramm ist der Kampf gegen mehrere Aggressoren. Dabei ist es besonders wichtig, selbst anzugreifen. Wenn man rein im Verteidigungsmodus ist und sich nur auf das Abwehren fixiert, dann wird man gegen mehrere Aggressoren keine Chance haben.
Zudem sollte man hier auch grundlegende Strategien lernen, die die Erfolgschancen deutlich verbessern können.
Beispielhafte Inhalte:
- weitere Schrittarbeit wie zum Beispiel der Kreuzschritt
- Strategien und Taktiken gegen mehrere Angreifer
- Spezielles Selbstverteidigungstraining gegen mehrere Angreifer
- Kuen-To-Boxform inklusive Wendung
Der 11. Schülergrad im Wing Chun:
Im elften Schülergradprogramm geht es vor allem um sanfte Mittel und Hebeltechniken. Als sanfte Mittel bezeichnet man dies nicht deshalb, weil diese Hebel nicht weh tun würden. Im Gegenteil. Man bezeichnet sie deshalb so, weil es das Ziel ist, den Aggressor nicht ernsthaft zu verletzen.
Der Grund, warum man erst so spät mit Hebeltechniken beginnt im Wing Chun ist der, dass ein Hebel nicht immer funktioniert. Wenn man sich also als Anfänger zu sehr darauf fixiert, dann wird man womöglich dem Aggressor unterliegen und selbst ernsthaft verletzt werden. Bei einem elften Schülergrad ist allerdings schon davon auszugehen, dass er/sie über genug Fähigkeiten verfügt, um spontan richtig reagieren zu können, falls ein Hebel einmal nicht wie gewünscht funktioniert.
Beispielhafte Inhalte:
- Hebel als Antwort auf unterschiedliche Faustangriffe
- Hebeldrills und Anti-Hebel-Techniken
- Angriffe 1 bis 6 der 12 Angriffe
Der 12. Schülergrad im Wing Chun:
Der 12. Schülergrad nimmt eine gewisse Sonderstellung ein im Wing Chun. Denn das Hauptthema hier ist die Wiederholung aller bisherigen Programme.
Im Fokus steht dabei aber nicht eine bloße Wiederholung, sondern vielmehr eine Verbesserung des bisher gelernten. Auch ist es ein Ziel des zwölften Schülerprogramms, dass man das bisher Gelernte auch unter Stresseinwirkung anwenden kann.
Beispielhafte Inhalte:
- Verbesserung der Formen
- Verbesserung der Grundtechniken
- Wiederholung der Verteidigung in allen Distanzen
- Wiederholung der Spezialprogramme
- Angriffe 7 bis 12 der 12 Angriffe
- Abwehren auf Pak-Faust im Chi Sao
- Beispielanwendungen zu Siu Nim Tao und Cham Kiu
Weitere Details zu den Schülergraden
Das Selbstverständnis in den Schülergraden:
In den Schülerprogrammen geht man noch nicht davon aus, dass es sich beim Aggressor um einen versierten Kämpfer handelt. Vielmehr nehmen wir an, dass es sich um einen Wirtshausschläger handelt, der keine Fähigkeiten in einer bestimmten Kampfkunst bzw. einem Kampfsport mitbringt.
Erst in den höheren Graden bzw. Technikerprogrammen gehen wir davon aus, dass wir es mit einem Experten zu tun haben.
Der übliche Aufbau einer Trainingseinheit:
In den Schülerprogrammen ist das Training in der Regel dreigeteilt (auch wenn nicht jedes einzelne Training so aussehen muss und es auch stark auf den jeweiligen Lehrer ankommt):
Man beginnt mit der Form – also entweder mit der Siu Nim Tao oder der Cham Kiu. Danach widmet man sich dem Aufbau taktiler Reflexe, indem man Chi Sao trainiert. Allerdings beginnt man damit in der Regel erst im dritten Schülerprogramm – in den ersten beiden Schülergraden überspringt man dies noch.
Am Ende der Trainingseinheit widmet man sich meist dem Lat Sao. Damit meint man die Umsetzung des gelernten in einer Freikampfübung. Beliebt bei Anfängern sind da vor allem der Pak Sao Zyklus und spezielles Selbstverteidigungstraining (z.B. das Blitz Defence von Großmeister Kernspecht). Auch sollte man im Wing Chun meiner Meinung nach das Sparring nicht gänzlich vernachlässigen.
Muss man auch Theorie lernen?
In der Regel gehört es ebenso dazu, ein bisschen Theorie zu lernen im Wing Chun. Schließlich gibt es bestimmte Konzepte und Prinzipien, die man verstehen sollte. Und man sollte natürlich auch die wichtigsten Begriffe kennen. Wenn du dich für letzteres interessierst, dann schau hier mal rein: Wichtige Begriffe im Wing Chun
Wie lange dauert es, die 12 Schülergrade zu erlernen?
Das kommt natürlich drauf an, wie viel Energie du hinein steckst. In vielen Verbänden gibt es aber auch Wartefristen – das heißt, man muss von Haus aus eine gewisse Zeit warten, bis man die Prüfung zum nächsten Schülergrad ablegen darf.
In der Regel dauert es daher mindestens drei Jahre um die kompletten 12 Schülergrade zu erlernen. Und dabei sollte man meiner Meinung nach mindestens zwei bis drei mal die Woche trainieren gehen. Hat man nicht so viel Zeit und Lust, dann sollte man sich besser etwas länger Zeit lassen. Denn was bringt es, einen bestimmten Grad zu erlangen, wenn man die Inhalte darin noch gar nicht wirklich beherrscht?
Übrigens: Wenn du sehr motiviert bist und sogar mehr als zwei oder drei mal die Woche trainierst, dann wirst du zwar nicht schneller deine Prüfungen ablegen können als alle drei Monate. Aber das braucht dich nicht weiter zu stören. Wichtig ist, dass du die Sachen beherrscht, nicht welchen Grad du auf deinem T-Shirt aufgenäht hast 😉
Viel Spaß also weiterhin bei deinem Training!
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