Der IRAS ist jener Stand im Wing Chun, der in der Regel als erstes gelernt wird. Denn bereits vor Ausführung der Siu Nim Tao (also der ersten Form im Wing Chun) ist es erforderlich, dass der Übende zuerst mal den IRAS korrekt einnimmt.
Und auch während der Ausführung der Siu Nim Tao Form gilt es den IRAS aufrechtzuerhalten.
Doch du fragst dich vielleicht, wozu man einen so komisch anmutenden Stand wie den IRAS eigentlich braucht. Und außerdem stellt sich auch noch die Frage, wie man ihn korrekt einnimmt und trainiert.
All das verrate ich dir, wenn du weiterliest …
Sinnhaftigkeit des IRAS
Die Abkürzung IRAS steht für „Internally Rotated Adduction Stance“ – also übersetzt „nach innen rotierter Adduktoren Stand“. In der Endposition zeigen nämlich die Knie etwas nach innen und in den Adduktoren ist eine leichte Spannung aufgebaut. Daher also der Name.
Doch das erklärt natürlich noch lange nicht, wieso man sich überhaupt mit diesem merkwürdigen Stand befasst.
Denn eines ist klar: Der IRAS ist kein Kampfstand – man kann ihn in einem Kampf nicht sinnvoll einsetzen.
Doch wozu braucht man ihn dann?
Grund Nr. 1
Der IRAS ist die Grundvoraussetzung zur Ausführung der Siu Nim Tao Form, aber auch aller anderen Formen im Wing Chun wie Cham Kiu, Biu Tze und Holzpuppe.
Grund Nr. 2
Der IRAS ist aber auch die Startposition für alle Arten von Schritten im Wing Chun. Egal ob du nur eine Wendung bzw. Drehung machst, einen Verfolgungs- oder Z-Schritt – alles beginnt aus dem IRAS.
Der IRAS zeigt dir nämlich, wie weit deine Füße auseinander sein müssen, damit du einen optimalen (will heißen: stabilen) Stand hast.
Gerade Anfänger machen z.B. häufig den Fehler, dass sie beim Verfolgungsschritt den hinteren Fuß zu sehr nachziehen und dann viel zu eng stehen.
Da ist es gut, wenn man einen Referenzpunkt hat, um sich selbst kontrollieren zu können. Und genau das hat man mit dem IRAS. Du brauchst nur in den IRAS zurückzugehen. Kommt er dir zu eng vor, dann hat dein Schritt nicht gepasst.
Grund Nr. 3
Doch die beiden erst genannte Punkte sind noch lange nicht die wahren Gründe, warum man sich im Wing Chun mit dem IRAS beschäftigt. Ein ganz wichtiger Punkt ist nämlich, dass du lernst, den Schwerpunkt deines Körpers abzusenken.
Denn eine Absenkung deines Körperschwerpunktes bringt einen enormen Zuwachs an Stabilität.
Das ist gut für dein Gleichgewicht, aber auch für deine Schlagkraft. Wenn du im IRAS lernst, deinen Schwerpunkt zu senken, dann kannst du dies auch auf dein Fauststoßtraining übertragen – z.B. auf die Ausführung des One-Inch-Punches (ein Schlagtraining, das vor allem Bruce Lee bekannt gemacht hat).
Wenn du das richtig machst, erhöhst du die Schlagkraft dadurch enorm.
Grund Nr. 4
Ein weiterer Grund für die Befassung mit dem IRAS ist der im Wing Chun viel zitierte Aufbau von Kniespannung. Diese Kniespannung bringt dir ebenfalls mehr Stabilität und sie ist vor allem unbedingte Voraussetzung für jedwede Schrittarbeit im Wing Chun.
Man könnte auch sagen, die Schrittarbeit im Wing Chun lebt von der Kniespannung. Ohne sie geht gar nichts.
Da es natürlich grade für den Anfänger recht schwierig sein kann, sich gleichzeitig auf die Ausführung der Schritte und auf die Kniespannung zu konzentrieren, ist es sehr nützlich, regelmäßig den IRAS zu trainieren.
Wenn man ihn nämlich oft genug – und vor allem korrekt – übt, dann hat man die Kniespannung irgendwann automatisch. Der Körper hat es dann also verinnerlicht und man muss nicht mehr darüber nachdenken.
Grund Nr. 5
Der IRAS ist aber nicht nur was das Körperliche betrifft sinnvoll. Auch aus einem psychischen Gesichtspunkt heraus lohnt es sich, den IRAS bewusst einzunehmen.
Es stellt jedesmal ein bewusstes In-den-Körper-gehen dar, wenn man den IRAS einnimmt. Die Achtsamkeit steigt dadurch und dies wiederum wirkt sich positiv auf das nachfolgende Training aus. Man wird dadurch nämlich um ein Vielfaches aufnahmefähiger.
Einzige Voraussetzung dazu: Man muss auch wirklich bewusst den IRAS einnehmen. Leider ist das bei den meisten Trainierenden eher die Ausnahme als die Regel. Und das finde ich sehr schade. Man betrügt sich dadurch nur selbst, wenn man den IRAS in Gedanken versunken – und somit nur halbherzig – einnimmt.
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Tipps zur Ausführung des IRAS
Jetzt wo wir geklärt haben, dass es Sinn macht, den IRAS zu trainieren, stellt sich noch die wichtige Frage, WIE man ihn korrekt trainiert.
Nachfolgend gebe ich dir daher wichtige Tipps zur Ausführung (Eine Videoanleitung dazu findest du hier. Da zeige ich vor, wie du den IRAS korrekt einnimmst):
Tipp Nr. 1:
Zuallererst ist es wichtig, dass du dich entspannt aufrecht hinstellst – Kopf gerade mit Blick nach vorne. Die Füße stehen eng beieinander mit ein bis zwei Finger breit Abstand dazwischen.
Tipp Nr. 2:
Die Arme lass dabei locker seitlich hängen – die Handflächen zeigen nach vor.
Tipp Nr. 3:
Achte als nächstes darauf, dass die Füße gleichmäßig belastet sind. Weder der linke noch der rechte Fuß sollte stärker belastet sein als der andere.
Und achte auch darauf, dass du mittig auf deiner Fußsohle stehst, weder zu weit innen, noch zu weit außen bzw. zu weit vorne oder hinten.
Nimm dir dazu ruhig etwas Zeit und konzentriere dich ganz bewusst darauf.
Tipp Nr. 4:
Schließe jetzt langsam deine Hände und balle sie zur Faust. Aber bitte nicht verkrampft – bleib ganz locker dabei.
Tipp Nr. 5:
Jetzt machst du zwei Dinge gleichzeitig:
- Du ziehst einerseits deine Fäuste auf einer Linie nach oben – bis auf Höhe deiner Ellbogenbeuge.
- Andererseits gehst du dabei auch etwas in die Knie. Achte aber unbedingt darauf, dass dein Oberkörper dadurch nicht nach vorne kippt. Der Oberkörper sollte einfach nur vertikal abgesenkt werden – mit geradem Rücken.
Tipp Nr. 6:
Drehe nun deine Fußspitzen auf den Fersen nach außen, bis deine beiden Füße gemeinsam betrachtet einen Winkel von 90° bilden.
Achte dabei darauf, dass du nicht wieder nach oben wanderst – deine Knie sollten also gebeugt bleiben während du das machst.
Tipp Nr. 7:
Als nächstes drehst du noch deine Fersen auf den Fußballen nach außen bis du ein Dreieck formst.
Tipp Nr. 8
Deine Kniespannung richtet sich nun auf einen imaginären Punkt. Dieser Punkt ist genau dort, wo deine Füße hinzeigen – sich also ihre gedachten Geraden schneiden.
Viele machen den Fehler, dass sie die Knie in einer Linie aufeinander zudrücken. Das ist aber nicht notwendig – und sogar noch schädlich für die Knie.
Tipp Nr. 9
Der Brustkorb sollte nicht zu sehr angespannt sein und der Blick ist nach vorne gerichtet. Das signalisiert Willensstärke.
Häufige Fehler bei der Ausführung
Neben Tipps zur korrekten Ausführung des IRAS kann es auch noch nützlich sein, wenn man die häufigsten Fehler bei der Ausführung kennt. Vielleicht ertappst du dich dabei ja selbst, wie du einen dieser Fehler begehst. Oft ist es einem ja nicht mal bewusst …
Fehler Nr. 1: Du lässt den Kopf hängen und krümmst den Rücken
Das ist ein Fehler, den sehr viele begehen. Das passiert vor allem dann, wenn man nicht voll bei der Sache ist und die Gedanken mal wieder abschweifen.
Fehler Nr. 2: Du lehnst dich zu sehr nach hinten
Auch das ist ein sehr häufiger Fehler. Kontrollier dich doch von Zeit zu Zeit in einem Spiegel. Dann siehst du sofort, ob du diesen Fehler auch machst.
Fehler Nr. 3: Du lehnst dich zu weit nach vor
Auch wenn dieser Fehler weit seltener ist. Aber bei manchen beobachte ich, dass sie sich zu weit nach vor lehnen.
Das ist also genau das Gegenteil zu Fehler Nr. 2. Das kannst du ganz leicht korrigieren, indem du dich mittels Spiegel selbst kontrollierst.
Fehler Nr. 4: Du hast die Ellbogen außen
Das ist ein Fehler, den so gut wie jeder anfangs macht: Die Ellbogen befinden sich nicht am Körper sondern irgendwo außen.
Auch da kommt wieder das Problem mangelnder Aufmerksamkeit zum Vorschein. Wenn man nicht voll bei der Sache ist, dann passiert das.
Abhilfe kann es auch schaffen, wenn man sich wiederum im Spiegel kontrolliert.
Fehler Nr. 5: Du drückst die Knie aufeinander zu
Manche gehen beim IRAS von der irrigen Annahme aus, dass man die Knie möglichst eng aufeinander zudrücken sollte um damit Kicks in die Genitalien abwehren zu können.
Doch das ist kompletter Schwachsinn. Der IRAS ist ein reiner Trainingsstand und kein Kampfstand.
Außerdem ist diese Praxis auch noch extrem ungesund für die Knie.
Fehler Nr. 6: Du stehst zu hoch
Gerade wenn man damit beginnt, den IRAS zu trainieren, ist es unglaublich schwer, diesen für einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten (z.B. während der gesamten Siu Nim Tao Form).
Halte daher immer wieder inne und kontrollier dich zwischendurch, ob der IRAS noch passt.
Fehler Nr. 7: Du wanderst beim Drehen der Fußspitzen bzw. der Fersen in die Höhe
Das beobachte ich immer wieder: Der/die Übende beugt zunächst korrekt die Knie. Doch sobald die Fußspitzen nach außen gedreht werden, wippt man wieder nach oben.
Mach also speziell diesen Part ganz aufmerksam. Es hilft auch wieder, sich im Spiegel zu beobachten.
Fehler Nr. 8: Deine Fußsohlen sind nicht gleichmäßig belastet
Die Fußsohlen gleichmäßig zu belasten ist nicht nur beim Einnehmen des IRAS wichtig. Auch wenn man bereits im IRAS steht, sollten die Fußsohlen gleichmäßig belastet sein.
Ein häufiger Fehler ist vor allem, dass man das Gewicht eher außen am Fuß konzentriert um seine Adduktoren zu entlasten.
Mach diesen Fehler nicht. Kontrollier dich immer wieder zwischendurch, ob dein Stand noch passt. Langfristig hast du mehr davon, wenn du den IRAS korrekt übst.
Tipps für`s Training
Bisher ging es nur um die Ausführung an sich. Zum Schluss möchte ich dir daher noch ein paar Tipps mit auf den Weg geben, auf welche Arten du den IRAS trainieren kannst:
Trainingstipp Nr. 1: Nimm den IRAS als konzentrierten Ausgangspunkt deines Formentrainings
Nimm dir zu Beginn deines Formentrainings etwas Zeit, um bewusst den IRAS einzunehmen. Geh bewusst hinein. Bewusstsein ist nämlich der Schlüssel zum Erlernen aller Bewegungen im Wing Chun.
Trainingstipp Nr. 2: Bewusstes Hinstellen und Einnehmen des IRAS üben
Diesen Tipp solltest du vor allem dann beherzigen, wenn du erst seit kurzem Wing Chun trainierst oder bisher nie besonders auf die Ausführung des IRAS geachtet hast.
Nimm dir für ein paar Wochen jeden Tag einige Minuten Zeit um den IRAS ein paar Mal bewusst einzunehmen und jeweils für ein paar Sekunden darin zu verweilen.
Trainingstipp Nr. 3: Bewusstes Stehen im IRAS üben
Als Fortgeschrittener sollte es dir problemlos möglich sein, etwa 5 Minuten im IRAS zu verweilen – und zwar ohne, dass du in die Höhe wanderst, sich dein Schwerpunkt an die Außenseiten deiner Fußsohlen verlagert oder deine Ellbogen nach draußen wandern.
Trainingstipp Nr. 4: IRAS halten mit geschlossenen Augen
Mit geschlossenen Augen zu trainieren hat den großen Vorteil, dass wir uns dadurch viel besser auf uns und unseren Körper konzentrieren können.
Versuch das doch auch mal mit dem IRAS.
Trainingstipp Nr. 5: Schrittarbeit ausgehend vom IRAS üben
Geh in den IRAS und trainiere ausgehend von dieser Position die unterschiedlichsten Schritte wie z.B. Verfolgungsschritt oder auch Kreuzschritt.
Trainingstipp Nr. 6: IRAS im Chi Sao trainieren
Wenn du das nächste Mal Dan Chi, Poon Sao oder auch Chi Sao Sektionen trainierst, achte ganz bewusst auf deinen Stand.
Meist werden wir schlampig, wenn wir uns zu sehr auf unsere Arme konzentrieren. Halte also jede Minute oder so mal kurz inne und kontrollier dich.
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Dies ist ein Beitrag aus unserem Kampfkunstlexikon. Hier klicken für weitere Beiträge.
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P.S.
Ich habe auch ein Video veröffentlicht, indem ich dir die Ausführung des IRAS noch mal Schritt für Schritt vorzeige: Der IRAS im Wing Chun – eine Schritt-für-Schritt Trainingsanleitung
Und vielleicht interessiert dich auch der Beitrag von letzter Woche: Kettenfauststöße – eine wirkungsvolle Technik aus dem Wing Chun
Andrea Kesting meint
Hallo, ich betreibe auch wing chun. Doch ich glaube das jeder Fuss im IRAS in einem Winkel von 60 Grad und nicht 90 Grad stehen.
Vg
Andrea
Martin Grünstäudl meint
Hallo Andrea, vielen Dank für deinen Kommentar.
Es ist erstmal möglich, dass das verschiedene Stilrichtungen auch unterschiedlich sehen. Ich meinte damit, dass der gemeinsame Winkel 90° ist. Ich stelle mir einen imaginären Punkt vor dem Körper vor, auf den beide Füße hinzeigen. Dort ist der Winkel dann 90°.
Liebe Grüße
Martin
Matthias Jürges meint
Hallo Martin,
ich frage mich gerade, wie tief man tatsächlich die Knie absenken sollte.
Gibt es da einen Anhaltspunkt? Ich habe manchmal das Gefühl zu tief zu stehen.
Wenn ich dann meinen Stand betrachte sind meine Knie etwas über die Fußspitzen hinaus gewandert.
Viele Grüße
Matthias
Martin Grünstäudl meint
Hallo Matthias,
zu viel sollte man beim IRAS nicht in die Knie gehen, das ist richtig.
Am besten stehst du, wenn du deine Zehen gerade nicht mehr siehst, weil sie von deinen Knien verdeckt sind. Aber sie sollten nur ganz knapp verdeckt sein. Wenn du nur ganz wenig hochkommst, solltest du sie wieder sehen können. Das ist dann die perfekte Höhe.
Liebe Grüße
Martin
Martin Grünstäudl meint
… außerdem sollten die Knie auch immer gerade über dem Fuß sein und nicht nach innen oder außen kippen. Steht man zu tief, kippen die Knie nach innen. So kann man das auch ganz gut kontrollieren 🙂
Matthias Jürges meint
Danke, das hilft mir weiter 🙂