Donnie Yen trainierte es extra für seine Ip-Man-Filme. Und der große Bruce Lee trainierte es etwa fünf Jahre lang bei eben diesem Ip Man (oder auch Yip Man genannt).
Die Rede ist von Wing Chun – einem chinesischen Kung-Fu-Stil, der vor allem auf kluges Nachgeben und das Borgen der gegnerischen Kraft setzt …
Allgemeine Fakten zum Wing Chun
Historisches: Die Yip Man Linie
Wie alt Wing Chun genau ist, kann man nicht mit Sicherheit sagen. Doch aufgrund einiger bekannter Eckdaten lässt sich das Alter dieser Kampfkunst auf mindestens 250 bis 300 Jahre schätzen.
Was man jedenfalls genau weiß, ist, dass es aus China kommt.
Und man kennt auch ziemlich genau die Großmeister, die es immer weiter verfeinert und an ihre Schüler weitergegeben haben. Und zwar vor allem bis zurück zu Leung Jan.
Letzterer wurde in den Jahren zwischen 1816 und 1826 geboren und verstarb im Jahre 1901. Die genauen Angaben zum Geburtsjahr variieren leider von Quelle zu Quelle.
Die bekanntesten Schüler von Leung Yan waren vor allem Chan Wah Shun und Leung Bik. Beide wurden deshalb innerhalb der Wing Chun Gemeinde bekannt, weil sie die Lehrer von bereits eingangs genanntem Yip Man waren.
Umso weiter man allerdings zurückgeht, desto unsicherer werden die Angaben.
Die Geschichte, dass eine Nonne namens Ng Mui die Kampfkunst Wing Chun erfunden und ihr Wissen an eine weitere Frau namens Yim Wing Chun (daher angeblich der Name) weitergegeben hat, ist vor allem eines: eine Geschichte.
Es gibt auch andere Stilrichtungen …
Wing Chun Stammbäume werden immer sehr geradlinig dargestellt. Da gab es den Herrn Leung Jan, dann war da Chan Wah Shun und schließlich Yip Man, Leung Ting und Keith Kernspecht.
Doch halt: Wer sagt, dass es jeweils nur EINEN Nachfolger gab?
Es haben sich immer wieder Leute abgespalten und ihren eigenen Stil gegründet. Und so gibt es auch im Wing Chun diverse Stilrichtungen.
Allerdings ist die Yip Man Stilrichtung mit Abstand die bekannteste – und mit der IWTA von Leung Ting bzw. vor allem mit der EWTO von Keith R. Kernspecht stellt die Yip Man Stilrichtung auch weltweit den größten Verband.
Daneben gab es / und gibt es noch viele andere, z.B. den Yuen Kay Shan Stil. (Eine weitere Aufzählung erspar ich mir aber jetzt, da das glaub ich nur wenige meiner Leser interessieren würde ..)
Wing Chun als Oberbegriff
Wing Chun lässt sich aus dem Chinesischen etwa mit „schöner Frühling“, „Ode an den Frühling“ bzw. mit „ewiger Frühling“ übersetzen. (Frag mich aber bitte nicht, warum das so heißt ..)
Die Schreibeweis „Wing Chun“ wird vielerorts verwendet, wenn man allgemein und quer über alle Stilrichtungen davon sprechen möchte. Aus werbe- und markenrechtlichen Gründen gibt es aber unzählige Schreibweisen davon, wie z.B. Wing Tsun, Ving Tsun oder Wing Tsung.
Alle diese Schreibweisen repräsentieren wiederum einen eigenen Verband – von denen es mittlerweile speziell in Europa eine regelrechte Epidemie gibt.
Wing Chun ist nicht immer gleich Wing Chun
Wie in jeder Kampfkunst so gilt auch hier: Vieles hängt ab vom jeweiligen Verband, von der Schule und vom einzelnen Trainer.
Jeder unterrichtet Wing Chun anders und betont unterschiedliche Sachen.
So kann Wing Chun bei dem einen Lehrer sehr weich unterrichtet werden und bei einem anderen Lehrer ungewöhnlich hart.
Und da gibt es außerdem noch die Unterscheidung zwischen innerlich und äußerlich. Von Leung Ting sagt man, dass er eine Kombination von innerem und äußerem Wing Chun unterrichtete.
Momentan ist vor allem das innere Wing Chun in aller Munde. Vor allem bei den beiden Großmeistern Keith R. Kernspecht und Sergio Iadarola.
Kernspecht hat in einem Artikel geschrieben, dass er es inneres Wing Chun (oder in diesem Fall Wing Tsun 😉 ) nennt, weil es bei sich selbst beginnt – vor allem mit der Achtsamkeit. Er unterrichtet somit von innen nach außen und nicht wie vielerorts üblich umgekehrt von außen nach innen.
Bei Iadarola ist zum Beispiel vom Qi die Rede, wie er hier in einem Video zeigt. Da mir da aber der nötige Einblick fehlt, wie er es nun genau versteht, möchte ich mich da nicht weiter darauf einlassen.
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Aufbau des Wing Chun Unterrichts
Traditionell besteht das Training zu Beginn vor allem aus Formen, Chi Sao und Lat Sao. Fortgeschrittene beschäftigen sich auch mit Chi Gerk, sowie mit Langstock und Doppelmesser.
Aber der Reihe nach …
Formen und Grundtechniken
Siu Nim Tao (übersetzt „Die kleine Idee“): Die Siu Nim Tao ist die erste Form, die man im Wing Chun lernt. Meist ist sie überhaupt das erste, was man trainiert, wenn man an einem Probetraining im Wing Chun teilnimmt. Wie der Name schon sagt, vermittelt sie einem eine erste „kleine Idee“ davon, was einem im Wing Chun erwartet.
Cham Kiu („Das Suchen der Arme“): Die Cham Kiu ist die zweite Form im Wing Chun. Diese enthält nun auch Schritte und Wendungen und wird deshalb erst nach der Siu Nim Tao gelernt. (Aber Achtung: Das bedeutet keineswegs, dass sie der Siu Nim Tao überlegen ist. Alle Formen stehen gleichberechtigt nebeneinander. Brauchen tut man alle vier waffenlosen Formen um Wing Chun komplett zu erlernen.)
Biu Tze („Stoßende Finger“): Die Biu Tze wird in der Regel als drittes gelernt. Und sie ist die letzte Form, die noch ohne Hilfsmittel auskommt. Konnte man sich in der Cham Kiu das erste mal vorwärtsbewegen und auch wenden, dann kommen jetzt noch viele weitere Freiheiten hinzu. Nun ist es auch erlaubt, sich nach vor, zurück und seitwärts zu beugen.
Muk Yan Chong („Holzpuppenform“): Die Muk Yan Chong ist die letzte waffenlose Form und wird an einer Holzpuppe trainiert. Sie besteht aus 116 Bewegungsfolgen, wobei 16 davon Tritte sind (jeweils 8 mit jedem Bein). Zum Vergleich: In der Siu Nim Tao und in der Biu Tze kommt kein einziger Tritt vor.
Grundlagentraining: Die Formen bieten natürlich bereits ein gutes Grundlagentraining. Daneben werden in der Regel aber auch Schrittarbeit und weitere Grundtechniken trainiert. Ein Beispiel für ein solches Training von Grundtechniken sind Gleichzeitigkeiten mit und ohne Wendung. Dabei geht es darum, dass der Schüler lernt, gleichzeitig Abwehr und Angriff auszuführen.
Chi Sao und Chi Gerk
Chi Sao („Klebende Arme“): Vom Chi Sao sagt man oft, es sei die Seele des Wing Chun. Und in der Tat ist es etwas, dass Wing Chun von vielen anderen Kampfkünsten unterscheidet. Vor allem in den vier Technikergraden (siehe die Graduierungen weiter unten) beschäftigt man sich zu einem großen Teil mit dieser Thematik.
Im Chi Sao lernt man taktile Reflexe. Das bedeutet, dass man lernt, dem Druck seines Gegners folgen zu können. Der Vorteil ist, dass taktile Informationen des Gegners weniger anfällig für Finten sind als optische. Zudem kann man auf taktile Informationen auch viel schneller reagieren – sofern es natürlich lange genug trainiert wurde.
Chi Sao kann man auf viele unterschiedliche Arten trainieren: Das reicht von vorher abgesprochenen Angriffen bis hin zu komplett freiem Chi Sao.
In der Yip Man Stilrichtung hat Leung Ting fixe Abläufe eingeführt, die er Sektionen nennt. Sinn dahinter ist, dass die Schüler etwas mit nach Hause nehmen können, dass sie auch alleine ohne Lehrer trainieren können – sie also nicht unbedingt wen brauchen, der ihnen ständig über die Schulter schaut. Außerdem dienen sie dazu, dass der Lehrer nichts vergessen kann und wirklich das gesamte Technikrepertoire unterrichtet.
Leung Ting ersann hierzu 7 Cham-Kiu-Sektionen, sowie 4 Biu-Tze- und 8 Holzpuppensektionen.
Dan Chi (einarmiges Chi Sao): Der Schüler beginnt jedoch in der Regel mit einarmigem Chi Sao, da es leichter ist, sich auf nur einen Arm zu konzentrieren. Erst wenn dies halbwegs gut funktioniert, sollte er dazu übergehen, mit beiden Armen gleichzeitig zu arbeiten.
Chi Gerk („Klebende Beine“): Chi Gerk ist dasselbe wie Chi Sao. Mit einem Unterschied: Man trainiert taktile Reflexe nicht mit seinen Armen, sondern stattdessen mit seinen Beinen. Natürlich bedingt es unsere Anatomie, dass man sich hier nur jeweils einem Bein zuwenden kann, da man ja auf dem anderen steht 🙂
Kampfanwendungen
Lat Sao („Freikampf“): Der Aufbau des waffenlosen Wing-Chun-Trainings ist traditionsgemäß dreiteilig. Man trainiert Formen, Chi Sao und eben Lat Sao bzw. Freikampf.
Dieser dritte Punkt ist natürlich auch unmittelbares Ziel des körperlichen Wing Chuns (also der ersten Ebene, siehe weiter unten ..).
Freikampf bedeutet hierbei vor allem zweierlei (aus dem Buch Wing Tsun Kuen):
- Zum einen bedeutet es, dass alles möglich ist. Die Kämpfer sind also vollkommen frei in der Auswahl ihrer Angriffe.
- Zum anderen bedeutet es auch, dass zu Beginn kein Arm- oder Beinkontakt besteht, sondern wenn, dann erst während des Kampfes (bzw. des Trainings) hergestellt wird. (Dieser Punkt unterscheidet es ganz klar vom Chi Sao Training, wo anfangs bereits ein Armkontakt besteht.)
Allerdings muss man beim Lat Sao Training bedenken, dass im Wing Chun an sich alles an Angriffen erlaubt ist. Da dies aber in einer Trainingssituation viel zu gefährlich wäre, muss es Einschränkungen geben, wodurch wirklich realistischer Freikampf unter Einsatz von Wing Chun Techniken nur schwer zu trainieren ist.
Waffentraining im Wing Chun:
Luk Dim Boon Kwan (Langstock): Beim Langstock fragt man sich als Außenstehender natürlich, warum man so etwas trainieren soll. Schließlich hat man selten mal einen Stock von 2,5 bis 2,9 Metern Länge dabei.
Allerdings ist zu bedenken, dass diese Art von Waffentraining auch sehr großen Nutzen für das waffenlose Wing Chun hat, vor allem was die Kraftentwicklung aus dem Körper betrifft.
Es lohnt sich also durchaus, sich auch mit dem Langstock zu beschäftigen.
Bart Cham Dao (Doppelmesser): Die Doppelmesser nehmen eine Sonderstellung im Wing Chun ein. Sie verstoßen nämlich als einzige gegen den dreiteiligen Aufbau.
Was fehlt, ist das taktile Training. Die Wing Chun Doppelmesser sind eine rein optische Angelegenheit. Für das Fühlen bleibt aufgrund der Kürze der Messer nämlich keine Zeit.
Sogar beim Langstock gibt es ein Fühltraining. Es nennt sich dort Chi Kwan („Klebender Langstock“)
Graduierungen im Wing Chun
Das Graduierungssystem im Wing Chun unterteilt sich in vier Bereiche: Es gibt Schüler-, Techniker-, Praktiker- und Großmeistergrade.
Natürlich ist es möglich, dass der eine oder andere Verband andere Namen für die einzelnen Bereiche verwendet. Aber im Großen und Ganzen setzt so gut wie jeder auf diese Vierteilung der Programme.
Die EWTO allerdings verwendet nun nicht mehr die Ausdrücke Techniker- sowie Praktikergrad. Dort unterteilt man jetzt nur noch in die Schülergrade und in die Höheren Grade. Ab dem fünften Höheren Grad darf man sich dann Meister nennen.
Schülergrade
In der Regel gibt es 12 Schülergrade im Wing Chun.
Vor allem lernt man hier die Siu Nim Tao und die Cham Kiu inklusive Chi-Sao-Anwendungen und Lat Sao.
Technikergrade
Es gibt in der Regel vier Technikergrade.
In der Yip Man Stilrichtung unter Leung Ting und Keith R. Kernspecht befasst man sich hier vor allem mit Chi Sao Sektionen und Kampfanwendungen aus Cham Kiu, Biu Tze und Holzpuppe.
Praktikergrade
Auch dieser Bereich umfasst in der Regel vier Grade, wobei man sich mit dem ersten Praktikergrad (also dem 5. Höheren Grad) als Meister des waffenlosen Wing Chun bezeichnen darf.
Dieser fünfte Grad schließt nämlich formal den waffenlosen Teil des Wing Chun ab. Es folgen in den anderen drei Graduierungsstufen Langstock und Doppelmesser.
Großmeistergrade
Im 9ten und 10ten Grad gibt es kein Programm mehr im eigentlichen Sinn. Hier gilt es vielmehr alles bisher Gelernte derart zu verinnerlichen, dass man es vollkommen frei umsetzen kann.
Es geht hier nur noch um Prinzipien und Konzepte – nicht mehr um Techniken. Der Großmeister hat sich sozusagen von allen Einzeltechniken befreit.
Prinzipien im Wing Chun
Vor allem in der Yip Man Stilrichtung unter Keith R. Kernspecht ist immer wieder von folgenden 8 Prinzipien die Rede. Sie sollen grob das Vorgehen im Wing Chun verdeutlichen (aus dem Buch: „Vom Zweikampf„):
Die vier Kampfprinzipien:
- Ist der Weg frei, stoß vor.
- Wenn der Weg nicht frei ist, bleib kleben.
- Wenn die Kraft des Gegners größer ist, gib nach (Gerade dieses dritte Prinzip erklärt sehr gut, worum es im Wing Chun geht. Man versucht nämlich nicht, mit Kraft zu arbeiten und gegnerische Angriffe zu blocken. Es geht im Wing Chun eher darum, klug nachzugeben und dadurch den Gegner ins Leere laufen zu lassen.)
- Zieht der Gegner sich zurück, folge.
Die vier Kraftsätze:
- Mach dich frei von deiner eigenen Kraft.
- Mach dich frei von der Kraft des Gegners.
- Verwende die Kraft des Gegners gegen ihn selbst.
- Füge zur gegnerischen Kraft deine eigene hinzu.
Die drei Ebenen im Wing Chun
Nicht nur der körperliche Unterricht an sich ist dreiteilig aufgebaut.Das gesamte Wing Chun ist dreigeteilt. Keith R. Kernspecht nennt es auch die drei Ebenen:
Erste Ebene: Kampffähigkeiten und Selbstverteidigung
In der ersten Ebene geht es um die körperliche Kampfkunst. Man lernt zu kämpfen und sich gegen andere zu verteidigen.
Zweite Ebene: Selbstbehauptung im Alltag
Die Erkenntnisse aus dem körperlichen Training werden auch dazu genutzt, um sich im alltäglichen Leben behaupten zu können und Erfolg zu haben.
Dritte Ebene: Selbstvervollkommnung
Jetzt geht es nur noch um den Kampf mit sich selbst. Es gilt nicht andere, sondern sich selbst zu besiegen – vor allem all seinen Neid, Hass und sein Ego.
Die Erreichung der dritten Ebene ist das eigentliche Ziel im Wing Chun (oder sollte es sein).
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