In sehr vielen – allen voran chinesischen – Kampfkünsten trainiert man Formen. Doch gerade Anfänger und sogar manche Fortgeschrittene fragen sich oft, was das überhaupt bringen soll. Nicht wenige sind sogar der Ansicht, dass man sich das Formentraining komplett sparen könnte.
Und wenn man sich ansieht, wie die meisten Leute Formen trainieren, dann haben sie sogar recht. Im Wing Chun beispielsweise steht das Training der Formen meist zu Beginn jedes Gruppentrainings am Programm. Und die meisten Trainierenden erwecken den Eindruck, als ob sie es einfach so schnell wie möglich hinter sich bringen wollen bis die interessanteren Dinge kommen.
Dabei ließe sich ein großer Nutzen aus den Formen ziehen – aber halt nur, wenn man sie richtig trainiert. Doch dazu muss man vor allem mal wissen, warum man sich überhaupt damit beschäftigen sollte …
Auch wenn man in vielen Kampfkünsten Formen und Katas trainiert, wie zum Beispiel auch im Tai Chi oder im Karate, so möchte ich als Hauptbeispiel das Wing Chun herannehmen, da ich von dieser Kampfkunst mit Abstand die meiste Ahnung habe. Doch vieles was ich hier anführe, ließe sich auch auf viele andere Kampfkünste übertragen.
Die Formen im Wing Chun
Traditionell unterscheidet man im Wing Chun vier waffenlose Formen sowie zwei Waffenformen:
- Siu Nim Tao („die kleine Idee Form“)
- Cham Kiu („Suchende Arme Form“ bzw. „Brücken-Arme“)
- Biu Tze („Stoßende Finger Form“)
- Muk Yan Chong („Holzpuppenform“)
- Luk Dim Boon Kwan („Langstockform“)
- Bart Cham Dao („Die 8 Wege der Doppelmesser“)
(Details zu den Begriffen im Wing Chun kannst du hier nachlesen)
Wenn man im Internet etwas zu diesem Thema sucht, dann treten allerhand „Experten“ auf den Plan, die behaupten, dass man sich bei den Wing Chun Formen im Prinzip einen Gegner vorstellt und dann eine Aneinanderreihung diverser Techniken übt, die man dann später im Chi Sao und im Freikampf einsetzt.
Auf den ersten Blick ist das ja auch logisch, denn man verwendet ja auch die Bewegungen aus den Formen im weiteren Training.
Trotzdem führt dieser Denkansatz in die Irre.
Es gibt theoretisch unendlich viele Techniken und vor allem auch Winkel in denen man jede einzelne dieser Techniken ausführen könnte. Wenn man sich nun beim Üben der Formen vorstellt, wie man gegen einen Gegner kämpft, dann hätte man damit nur einen Bruchteil dieser Möglichkeiten abgedeckt.
Du würdest also sagen wir mal ein Prozent all dieser Möglichkeiten trainieren und 99 Prozent komplett außer Acht lassen.
Keine besonders gute Strategie …
Zudem würde man dadurch auch nicht erklären können, warum man zum Beispiel den Huen Sao so oft in den Formen übt. In der Siu Nim Tao kommt der Huen Sao (= Zirkelhand, eine starke Drehung des Handgelenks) in jedem einzelnen Satz vor – teilweise sogar mehrfach.
Dabei gibt es aber nur verhältnismäßig wenige Einsatzmöglichkeiten dieser Technik. Ich kann mir also beim besten Willen nicht vorstellen, dass den Erfindern der Formen gerade diese Technik so wichtig war, weil sie an eine spezielle Kampfanwendung gedacht haben, als sie den Ablauf der Formen ersannen.
Es muss also noch einen anderen Grund geben, warum wir im Wing Chun Formen trainieren.
Der wahre Sinn hinter den Wing Chun Formen
Der Wing Chun Großmeister Keith Kernspecht hat es wohl am besten auf den Punkt gebracht, wenn er sagt:
Formen lehren dir keine Bewegungen, sondern sie lehren dich richtiges Bewegen.
Was so viel bedeutet wie: Es geht nicht um das Lernen von einzelnen Techniken, die du später genauso ausführen kannst. Es geht vielmehr um den Aufbau gewisser Fähigkeiten. Kernspecht nennt sie auch DIE GROSSEN SIEBEN:
- Achtsamkeit
- Beweglichkeit / Gewandtheit
- Gleichgewicht und Standfestigkeit
- Körpereinheit / Power
- Wahrnehmung (optisch und taktil)
- Distanzeinschätzung und Timing
- Kampfgeist
Achtsamkeit:
Wenn man Formen aufmerksam trainiert, dann sind sie sehr förderlich in punkto Achtsamkeit. Und gerade was Selbstverteidigung betrifft, zählt die Achtsamkeit wohl zu den wichtigsten Fähigkeiten, die man erwerben kann.
Gleich die allererste Form im Wing Chun – die Siu Nim Tao – eignet sich perfekt um dies zu trainieren. Aber eben nur, wenn man es richtig macht.
Beweglichkeit / Gewandtheit:
Jede einzelne der Formen trägt dazu bei, beweglicher und gewandter zu werden. Doch jede Form tut dies auf ihre Weise und mit anderem Fokus.
In der Siu Nim Tao beispielsweise wird die Beweglichkeit der Schulter, des Ellbogens und der Handgelenke gefördert. Und erst in der Biu Tze – der dritten Form im Wing Chun – wird die im Kampf so wichtige Rumpfbeweglichkeit gefördert.
Gleichgewicht und Standfestigkeit:
Auch das wird durch die Wing Chun Formen trainiert. Allerdings nur zum Teil, denn man trainiert natürlich nur sein Gleichgewicht ohne Druck von außen (also ohne, dass jemand anderes Druck auf uns ausübt).
In der Siu Nim Tao lernen wir stabil zu stehen, in der Cham Kiu bewegen wir uns und machen erste Tritte in die Luft und in der Biu Tze bewegen wir nun auch den Oberkörper zur Seite, sowie nach hinten und nach vor. In der Holzpuppenform wirken wir auf einen stabilen Holzstamm ein und achten darauf, uns nicht selbst wegzudrücken oder bei einem Zug nach vorne zu kippen.
Körpereinheit / Power:
Unsere Körpereinheit und somit Schlagkraft können wir auch teilweise bereits durch unser Formentraining aufbauen.
In der Siu Nim Tao beginnen wir damit, aus einem stabilen Stand heraus Angriffe zu üben und wir lernen, den Oberkörper getrennt vom Unterkörper bewegen zu können.
In der Cham Kiu koordinieren wir dann den Ober- mit dem Unterkörper bevor wir dann in der Biu Tze lernen auch Kraft zum Beispiel aus dem Oberarm bzw. der Schulter zu generieren.
Bis wir dann in der Holzpuppe lernen, Kraft zu übertragen ohne uns selbst zu behindern und noch weitere Körpereinheit mithilfe von Langstock und Doppelmesser aufbauen. (und Waffentraining ist wirklich eine hervorragende Methode um ungeheure Power zu entwickeln)
Wahrnehmungsfähigkeit
Die Wahrnehmungsfähigkeit ist etwas, was die Formen nur in geringem Maße trainieren können.
Man lernt aber zumindest in sich hineinzuhören, sich von seiner eigenen Kraft zu befreien und loszulassen. Und all das ist nötig um überhaupt die Möglichkeit zu haben, sensibel auf äußere Reize reagieren zu können.
Die Wing Chun Formen legen somit also die Basis für das Training der Wahrnehmungsfähigkeit. Das muss man dann allerdings im Chi Sao (taktil) und im Lat Sao (optisch) noch viel genauer machen.
Distanzeinschätzung und Timing
Wenn die Wing Chun Formen eines nicht trainieren können, ist das natürlich die Einschätzung von Distanzen, denn dazu braucht man einen Trainingspartner.
Und auch Timing lässt sich nur sehr eingeschränkt mittels Formen trainieren. Genauer gesagt lernt man sich zu koordinieren, also das richtige Timing mit sich alleine. Was da natürlich ebenfalls fehlt, ist der Trainingspartner.
Wodurch es klar ist, dass man auch das Timing im Wing Chun vor allem durch Chi Sao und Lat Sao trainieren muss.
Kampfgeist
Das ist etwas, was man wieder ganz gut durch die Wing Chun Formen trainieren kann.
Allerdings ist das auch wieder nur die halbe Wahrheit. Es gibt nämlich vor allem zwei Herangehensweisen um Kampfgeist aufzubauen.
Die fernöstliche Herangehensweise ist es, Gelassenheit zu trainieren. Dies kann man sehr gut durch Meditation. Und die Siu Nim Tao beispielsweise ist eine Art Meditation in Bewegung (zumindest bei richtiger Ausführung).
Daneben gibt es noch eine westliche Herangehensweise und diese betont stressinduziertes Training. Das wiederum lässt sich durch Formen nicht bewerkstelligen. Dafür braucht man vor allem das Lat Sao im Wing Chun.
Weitere Infos zu diesem Thema gibt es unter anderem auch hier: Hintergründe zur Siu-Nim-Tao-Form (in unserem Mitgliederbereich)
Doch was ist denn nun mit dem Huen Sao?
Ich habe ja vorhin angesprochen, dass wir in den Wing Chun Formen den so genannten Huen Sao so oft trainieren. Dieser Ausdruck heißt übersetzt so viel wie Zirkelhand und ist eine ausgeprägte Drehung im Handgelenk – egal ob nach außen, innen oder nach unten.
Doch wenn wir diese Technik offensichtlich nicht deshalb üben, weil sie im Kampf so wichtig ist, warum machen wir es dann überhaupt?
Ganz einfach: Wir tragen im Wing Chun keine Bandagen wie zum Beispiel im Kickboxen oder Muay Thai. Und deshalb müssen wir auf andere Weise dafür sorgen, dass unser Handgelenk stabil genug ist, um uns nicht im Training (bzw. im Kampf) selbst zu verletzen.
Und außerdem, wie heißt es so schön: Eine Kette ist nur so stark wie ihr schwächstes Glied. Was bringt es also, wenn ich durch hartes Training jede Menge Körpereinheit aufgebaut habe, aber mein Handgelenk viel zu schwach ist für einen harten Schlag? Ich könnte all diese Power nicht übertragen.
Und DAS ist der wahre Grund für den Huen Sao in den Formen. Er ist eben NICHT in den Formen enthalten, weil wir uns eine bestimmte Anwendung dafür vorstellen sollen. Er ist dazu da, um unser Handgelenk und unseren Unterarm zu kräftigen und flexibel zu machen. Für einen Fauststoß, der jeden umhaut.
Und wie sieht es in anderen Kampfkünsten aus?
Auch wenn ich jetzt Wing Chun als Beispiel genommen habe, so glaube ich, dass diese Sichtweise zu den Formen auch in vielen anderen Kampfkünsten eine sinnvolle Herangehensweise wäre.
Ich habe zwar gehört, dass viele Formen und Katas derart betrachten, dass es eine Art Schattenboxen ist.
Gleichzeitig bin ich mir sicher, dass der Nutzen von Formen größer wäre (und zwar über alle Kampfkünste hinweg), wenn man die Entwicklung von Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellen würde.
P.S.
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