Wenn man Selbstverteidigung lernen möchte, die wirklich funktioniert, genügt es nicht einige Kniffe in einem Selbstverteidigungskurs gezeigt zu bekommen und diese ein paar mal nachzumachen.
Und damit möchte ich heute gar nicht den Umstand ansprechen, dass neben dem Training in einem solchen Kurs noch einige andere Dinge wichtig sind. Darüber habe ich ja schon mal in einem anderen Artikel geschrieben: Selbstverteidigung lernen – Warum der normale Gruppenunterricht zu wenig ist
Heute möchte ich mich vielmehr mit der zweiten Phase effektiver Selbstverteidigung beschäftigen, also mit dem Training für eine körperliche Auseinandersetzung. Die Frage dabei ist, was man dafür konkret trainieren sollte?
Aus meiner Sicht sind es 8 Dinge …
… 1 …
Training unterschiedlicher Bedrohungssituationen
Die ernüchternde Wahrheit ist, dass es nicht DIE Bedrohungssituation gibt, auf die wir uns gezielt vorbereiten können.
Vielmehr gibt es eine Vielzahl unterschiedlicher Bedrohungssituationen – ein Umstand, der unser Selbstverteidigungstraining enorm erschwert.
Um das Ganze etwas zu strukturieren, kann man die wichtigsten Bedrohungssituationen in drei Kategorien einteilen – zumindest, wenn es sich dabei nur um einen Angreifer handelt und dieser nicht bewaffnet ist:
1.1 Der Ritualkampf / Machokampf
Der Ritualkampf ist eine typische Bedrohungssituation, wenn du am Wochenende ausgehst und der (meist betrunkene) Typ an der Bar dich anmacht.
Doch was tust du nun? Was sagst du und wie verhältst du dich? Welche Optionen hast du? Wie verläuft eigentlich ein solcher Ritualkampf in der Regel? Gibt es hier Unterschiede in der Selbstverteidigung zwischen Frauen und Männern?
Genau auf diese Fragen sollte in einem guten Training für Selbstverteidigung eingegangen werden. Je nach Phase in der du dich im Ritualkampf befindest, sollten Reaktionen eingeübt werden, die dich einen möglichen Kampf vermeiden lassen bzw. heil überstehen lassen, wenn ein Kampf nicht mehr zu vermeiden ist.
Grob gesagt lässt sich ein Ritualkampf nämlich in vier typische Phasen* einteilen:
- Blickkontakt
- Ansprechen
- Schubsen und Greifen
- Angriff
*siehe auch Keith Kernspechts Buch Blitzdefence
In jeder dieser vier Phasen hast du die Möglichkeit zu reagieren und dich aus der Affäre zu ziehen. Doch dies muss natürlich auch gründlich trainiert werden. Nur wenn du auf diese Situation auch mental vorbereitet bist, kannst du sie unter Kontrolle halten.
Noch kurz zu Punkt Nr. 4: Der häufigste Angriff ist ein so genannter Sucker Punch aus ziemlich kurzer Distanz auf das Kinn des Opfers. Und genau auf einen solchen Angriff sollte man sich im Training auch vorbereiten. Tut man das nicht, dann kann man auch nicht von effektivem Selbstverteidigungstraining sprechen.
1.2 Überfallartiger Angriff
Diese Art der Bedrohung ist leider auch ziemlich häufig anzutreffen. Gekennzeichnet ist der überfallartige Angriff dadurch, dass er schnell und ohne Vorwarnung passiert – man eben überhaupt nicht damit rechnet. Und das macht es auch so schwer, sich effektiv darauf vorzubereiten im Training.
Doch Möglichkeiten gibt es trotzdem. Auf was es hier vor allem ankommt, sind zwei Dinge: Einerseits natürlich die Vermeidung besonders gefährlicher Situationen und Plätze bereits im Vorfeld. Und andererseits ist es die Achtsamkeit, die uns vor solchen negativen Überraschungen schützen kann. (man kann diese Achtsamkeit trainieren, auch wenn das natürlich nicht so einfach ist)
Und falls es doch mal passiert, dass du unvorbereitet das Opfer eines solchen feigen Angriffes wirst, gibt es Reflexe, die du eintrainieren kannst und die einen bestmöglichen Schutz gegen solche Angriffe bieten.
Zudem kann es nicht schaden gewisse Selbstverteidigungstechniken zu trainieren – also wenn dich jemand festhält oder würgt etc ..
1.3 Der Duellkampf
Beim Duellkampf stehen sich die Kontrahenten Auge in Auge gegenüber und beide wissen, dass es gleich ernst wird.
Dies ist jene Bedrohungssituation, an die man am meisten denkt wenn es um eine körperliche Konfrontation geht. Kein Wunder auch, da diese Situation gerade auch in Filmen am meisten zu sehen ist. In Wahrheit ist diese Form der Bedrohung von den genannten dreien aber die seltenste.
Trotzdem sollte man sich auch damit befassen wenn man sich mit Selbstverteidigung beschäftigt. Doch es genügt dabei erstmal, sich auf einige wenige Angriffs- und Selbstverteidigungstechniken zu konzentrieren um bereits gut auf eine solche Situation vorbereitet zu sein.
… 2 …
Training von Schlagkraft
Durch Abwehren alleine gewinnst du keinen ernsthaften Kampf. (Außer du bist dermaßen gut, dass du es dir gefahrlos erlauben kannst, deinen Gegner mit Hebeltechniken und dergleichen unter Kontrolle zu halten. Wenn du aber noch nicht tausende von Trainingsstunden auf dem Buckel hast, würde ich es damit nicht probieren – außer vom Angreifer geht keine ernsthafte Gefahr aus.)
Aus diesem Grund finde ich es wichtig, dass man auch Übungen für Schlagkraft von Zeit zu Zeit in sein Training einbaut – ganz besonders, wenn man daran interessiert ist, effektive Selbstverteidigung zu lernen.
Möglichkeiten, um deine Schlagkraft zu trainieren gibt es übrigens genug – und zwar sowohl mit als auch ohne Trainingspartner. Mit Trainingspartner eignet sich vor allem das Training mit Handpratzen sowie mit Schlag- und Trittpolster.
Und auch alleine kann man seine Schlagkraft wunderbar trainieren, zum Beispiel mittels Wandsack bzw. dem guten alten Boxsack.
Beim Training der Schlagkraft muss auch keineswegs Langeweile aufkommen. Man kann dafür unterschiedliche Übungen und Variationen nutzen. Zudem kann man es auch noch mit Reaktionstraining kombinieren oder Schrittarbeit mit einbauen.
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Einsatz eines Kubotans und von Alltagsgegenständen
In brenzligen Situation kann es durchaus eine gute Strategie sein, sich selbst zu „bewaffnen“ um eine bessere Chance zu haben sich effektiv verteidigen zu können.
Besonders gut eignet sich hierzu der so genannte Kubotan auch Palmstick bzw. Self Defence Stick genannt. Dieses nützliche Tool zur Selbstverteidigung dient vor allem als Schlagverstärker und man kann damit auch Gliedmaßen wirksamer angreifen als mit bloßen Händen.
Dadurch eignet sich der Kubotan prima auch für Frauen, die sich gegen körperlich Stärkere verteidigen wollen. Und das Schöne dabei: Der Kubotan ist leicht mitzuführen (zum Beispiel auch als Anhänger am Schlüsselbund) und gilt rechtlich gesehen in Deutschland und Österreich NICHT als Waffe (in der Schweiz meines Wissens leider schon).
Auch der Einsatz anderer Alltagsgegenstände zur Selbstverteidigung sollte man zumindest mal trainiert haben. Vor allem der Regenschirm eignet sich sehr gut dafür.
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Verteidigung am Boden
Bodenkampf ist ein Thema, das bei vielen Trainierenden eher gemischte Gefühle auslöst. Doch ich kann dich gleich mal beruhigen: Es ist gar nicht nötig, sich jahrelang mit Grappling auseinanderzusetzen um am Boden eine Chance zu haben.
Es schadet natürlich nicht, sich gut am Boden bewegen zu können und ein Gespür dafür zu haben was alles möglich ist an Angriffen, wenn man erstmal zu Boden gegangen ist. Doch da wir in der Selbstverteidigung an keine sportlichen Regeln gebunden sind, ist es uns auch erlaubt, zu schlagen und zu treten. Und das sollten wir auch nutzen – auf ein Gerangel am Boden lass dich besser nicht ein.
Deshalb braucht man in der Selbstverteidigung auch nicht wirklich Bodenkampf trainieren, sondern eher eine Art Anti-Bodenkampf. Das soll heißen, dass man vor allem lernen sollte, wie man so schnell wie möglich wieder hochkommt und dafür alles einsetzen sollte was man hat. Außerdem sollten wir es auch trainieren, nicht zu Boden zu gehen und zum Beispiel Ringerangriffe üben abzuwehren.
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Training von optischem UND taktilem Reagieren
Wenn du dich in einer physischen Auseinandersetzung befindest, dann geht alles sehr schnell. Zeit zum Nachdenken hast du dann in der Regel nicht. Da ist es gut, wenn man gute Reaktionen hat, die man automatisch abrufen kann.
Was solche eintrainierten Reaktionen betrifft, unterscheiden wir zwischen optischen und taktilen. Die meisten Kampfkünste konzentrieren sich nur auf einen dieser zwei Aspekte – was meiner Meinung nach ein großer Fehler ist.
Als Beispiel möchte ich hier Wing Chun nennen. Theoretisch ist Wing Chun eine komplette Kampfkunst, die alles abdeckt. Doch die vorherrschende Trainingsweise ist vor allem bei Fortgeschrittenen die, dass nur noch so genanntes Chi Sao trainiert wird – eine Trainingsmethode um taktile Reflexe einzupflanzen.
Der Hintergedanke ist folgender: Taktile Reflexe sind viel schneller als optische. Wenn ich erstmal in Kontakt mit den Armen des Gegners bin, dann kenne ich dadurch sofort seine Absichten und kann blitzschnell reagieren.
Zudem ist das taktile Reagieren auf Druckrichtungen des Gegners auch viel weniger anfällig für Finten und Täuschungsmanöver, weshalb vor allem Wing Chun Praktizierende der Überzeugung sind, dass taktiles Reagieren dem Optischen weit überlegen ist.
Das ist schön und gut, doch was ist, wenn ich gar nicht in die Lage komme, Kontakt mit den Armen des Gegners aufzubauen? Was, wenn ich vorher bereits einen Fauststoß kassiere, weil ich das optische Reagieren im Training zu sehr vernachlässigt habe?
Und genau aus diesem Grund sollte man beides trainieren – sowohl optisches als auch taktiles Reagieren. Übungen hierzu gibt es genug.
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Training von Schritten und Grundtechniken
Gerade wenn man nur an Selbstverteidigung Interesse hat, versteht man oft nicht, warum man sich mit Schrittarbeit beschäftigen soll. Schließlich reißt diese Art von Training wohl niemanden so recht vom Hocker.
Doch leider ist gute Schrittarbeit etwas ganz ganz wichtiges. Denn ein bewegliches Ziel ist viel schwerer zu treffen als ein starres. Mit guter Schrittarbeit kannst du bereits vielen Angriffen von vornherein entgehen – und du verstärkst dadurch auch deine eigenen Angriffe enorm.
Und eines ist klar: Wenn die Basis nicht stimmt, dann hast du nur wenig Chancen in einer brenzligen Situation heil davonzukommen. Und die wichtigste Basis ist nun mal deine Schrittarbeit. Dementsprechend solltest du in deinem Training ebenso großen Wert darauf legen, dies gut zu beherrschen. Vernachlässige das bloß nicht in deinem Training!
Andererseits ist es auch nicht nötig, dich stundenlang nonstop mit Schrittarbeit zu quälen. Setz lieber auf Regelmäßigkeit und trainiere es immer wieder bis es sitzt. Du musst das nicht unbedingt eine Stunde lang am Stück trainieren jedes Mal.
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Abwehr von Hieb- und Stichwaffen
Jetzt tauchen wir ein in das Training für Fortgeschrittene. Es ist nämlich mit das schwierigste überhaupt, Angriffe von Hieb- und Stichwaffen abzuwehren. Das gilt umso mehr, wenn du selbst keine Waffe in Händen hältst, mit der du dich verteidigen könntest.
Unbedingte Voraussetzung für eine erfolgversprechende Abwehr ist übrigens, dass deine Beinarbeit perfekt sitzt (siehe Punkt 6). Ansonsten bist du nämlich chancenlos.
Und eines muss dir klar sein: Die Abwehr von Angriffen mit Hieb- und Stichwaffen ist niemals einfach und birgt immer ein Restrisiko – auch für den weit Fortgeschrittenen.
Dennoch kann man nicht umhin, sich im Rahmen eines Trainings für Selbstverteidigung auch mit dieser Thematik zu befassen, da es in der Realität leider auch vorkommen kann, dass jemand mit einer Waffe bedroht oder gar angegriffen wird.
Da es sich bei der eingesetzten Waffe statistisch gesehen in mehr als der Hälfte der Fälle um ein Messer handelt, sollte der Trainingsschwerpunkt vor allem darauf gelegt werden.
Daneben kann es aber nicht schaden, sich auch mal mit der Abwehr von Schlagwaffen wie Stock und Baseballschläger zu beschäftigen.
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Verteidigung gegen mehrere Angreifer
Eines unterscheidet Kampfsport von Selbstverteidigung: Im Kampfsport gibt es Regeln – in der Selbstverteidigung nicht. Somit ist es auch möglich, dass du dich nicht nur einem Gegner gegenübersiehst. Es ist gut möglich, dass gleich mehrere Angreifer auf dich losgehen.
Wenn du das aber nie trainiert hast, dann wirst du kaum eine Chance haben, heil aus diesem Schlamassel herauszukommen.
Wichtig ist dabei, dass deine Schrittarbeit passt und, dass du dich nicht ausschließlich mit bestimmten Techniken befasst. Wenn du dich nämlich gegen mehrere Angreifer zugleich verteidigen willst, dann kommt auch die richtige Strategie ins Spiel. Wichtig ist es dabei, immer einen Gegner von den anderen zu isolieren. Somit schafft man es, immer nur gegen einen Aggressor zur gleichen Zeit vorgehen zu müssen.
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