Etwa vor einem Jahr um 19 Uhr in einer Wing-Tsun-Schule in Österreich …
Es ist Prüfungslehrgang und einer der Trainer zeigt vor, wie Schwingerabwehr im Wing Tsun funktioniert. Er meint, es gehe mit der Eindrehtechnik aus dem vierten Schülerprogramm auch mit zwei Fingern – und er möchte das nun demonstrieren.
Der Trainer blickt sich um und wählt – natürlich per „Zufall“ – den schmächtigsten von allen Umstehenden zum Vorzeigen aus.
Dann geht es los: In Zeitlupe greift der etwa einen Kopf kleinere 17-jährige Bursch den Trainer an. Beginnend aus 2 Meter Sicherheitsabstand und in einem weiten Bogen um auch viel Zeit zum Demonstrieren zu haben.
Und siehe da: Die Technik funktioniert wirklich. Der Prüfer konnte diesen „gefährlichen“ Schwinger mit nur zwei Fingern abwehren. Wer hätte das gedacht ?! …
…
Mich würde interessieren, ob der Trainer das wirklich ernst meinte? Hat er es überhaupt selbst schon mal probiert, einen schnellen ansatzlosen Sucker Punch aus kurzer Distanz abzuwehren?
Versteh mich bitte nicht falsch: Ein hoher Meister wird sich in der Regel mit was auch immer (hier bitte die Kampfkunst deiner Wahl einsetzen) verteidigen können. Aber das dauert oft 30 Jahre und zigtausende von Trainingsstunden bis du dort angelangt bist.
In der Zwischenzeit trainierst du zum Beispiel im Wing Tsun fleißig Formen, machst Energieübungen und übst Nachgeben in Zeitlupentempo. Alles Gut und Schön. Aber eben kein gutes Selbstverteidigungstraining.
Hier meine 5 wichtigsten Gründe, warum ich glaube, dass man Kampfkunst nicht mit Selbstverteidigung gleichsetzen kann:
5 Gründe, warum sich Kampfkunsttraining
NICHT zur Selbstverteidigung eignet
Grund Nr. 1: Kampfkunsttraining verfolgt nicht dasselbe Ziel wie Selbstverteidigungstraining
Die meisten Kampfkünste verfolgen nicht das Ziel, dass der Übende die gezeigten Techniken schon bald in der Realität wird anwenden können.
Vielmehr sind Kampfkünste zumeist auf Jahrzehnte hin ausgelegt.
Es geht dabei auch nicht in erster Linie um das Kämpfen an sich, sondern vielmehr um Dinge wie Persönlichkeitsentwicklung und Selbstvervollkommnung.
Primäres Ziel ist es auch nicht andere, sondern sich selbst zu besiegen – vor allem seine schlechten Angewohnheiten, negative Einstellungen, Ängste und dergleichen.
Deshalb nennt man es ja auch Kampfkunsttraining. Wäre der Schwerpunkt auf Selbstverteidigung gelegt, dann würde man es auch so nennen.
Grund Nr. 2: Manche Dinge wirken sich erst nach Jahren bzw. Jahrzehnten des Trainings aus
Im Wing Chun (diese Schreibweise bezeichnet den Sammelbegriff für alle *ing-*un-Stile) beispielsweise verwendet man einen großen Teil des Trainings auf das Üben der Formen.
Erst vor kurzem traf ich wieder einen Ex-Wing-Chun-Praktizierenden, der mit Erreichen des 12. Schülergrades aufgegeben hat. Seiner Meinung nach wurde viel zu viel Formen trainiert. In jeder Trainingseinheit etwa eine halbe Stunde lang. Und was soll das schon bringen in punkto Selbstverteidigung? Das sei sowieso nicht einsetzbar in einem Kampf und deshalb lerne er jetzt ein realistischeres System.
Auch wenn ich ihm da nicht zustimmen kann, dass Formen nichts bringen, so muss ich ihm zumindest beipflichten, dass Formen kurz- bis mittelfristig wirklich keinen (oder nur einen geringen) Nutzen stiften.
Vor allem könnte man die Zeit, in der man Formen trainiert, viel besser für Dinge verwenden, die man in einer ernsten Situation wirklich einsetzen könnte – und zwar auch als blutiger Anfänger.
Also auch wenn Formen langfristig durchaus ihren Nutzen haben (nach tausenden Wiederholungen) – unmittelbar bringen sie wenig bis nichts in punkto Selbstverteidigungsfähigkeit.
Und wenn wir beim Beispiel Wing Chun bleiben, dann gilt das auch für viele andere Dinge wie Dan Chi, Poon Sao, Gleichzeitigkeitszyklen und auch für die „neueste“ Entwicklung: das innere Wing Chun.
Grund Nr. 3: Man „verliebt“ sich in das eigene System
Egal welche Kampfkunst du auch ausübst: Mit der Zeit kämpfen dort Karate gegen Karate, Wing Chun gegen Wing Chun und Tai Chi gegen Tai Chi.
Wenn du jetzt nicht genau weißt, was ich meine, dann sag 10 Karatepraktizierenden, sie sollen dich mit einem geraden Fauststoß angreifen. Ich gehe jede Wette ein, dass sie mit horizontaler Faust angreifen. Vom Stand her ist wahrscheinlich das hintere Bein ausgestreckt und das Gewicht in etwa gleichverteilt.
Und jetzt frag 10 Wing-Chun-Praktizierende dasselbe. Ich gehe diesmal jede Wette ein, dass sie dich mit vertikaler Faust angreifen. Das Gewicht brav auf dem hinteren Bein.
Aber wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass du in der Realität Karate- bzw. WingChun-mäßig angegriffen wirst? Wohl nahe Null.
Und dennoch trainiert fast jeder so.
Dass so trainiert wird, liegt auch in den meisten Fällen gar nicht am Trainer / der Trainerin. Der/Die kann auch immer wieder sagen, dass sich die Leute fremdstilmäßig angreifen sollen. Trotzdem verfallen die Leute immer wieder in das alte Muster und greifen sich gegenseitig so an, wie sie es gelernt haben.
Ach ja: Ich wette mit dir, ein Heuschwinger ist in diesem Angriffsrepertoire nicht dabei. Dabei ist genau das statistisch gesehen der häufigste Angriff, der dich auf der Straße erwarten wird.
Grund Nr. 4: Das jeweilige Kampfkunstsystem betont nur bestimmte Sachen
Jede Kampfkunst ist auf etwas bestimmtes spezialisiert.
Da ich vom Wing Chun die meiste Ahnung habe, möchte ich auch das wieder als Beispiel hernehmen.
Und da ist es bei den meisten Verbänden so, dass man mit Erreichen des 12. Schülergrades die meiste Zeit mit Chi Sao verbringt (Chi Sao ist eine Art Gefühlstraining für die Arme – man lernt dadurch blitzschnell auf Druckrichtungen des Gegenübers zu reagieren).
Was zum Beispiel die EWTO (der größte Wing Chun – bzw. in dem Fall Wing Tsun Verband der Welt) betrifft, so beschäftigte man sich in der Vergangenheit vor allem mit den Chi Sao Sektionen von Großmeister Leung Ting.
Neuerdings ist das so genannte innere Wing Chun sehr in Mode.
Natürlich werden die Leute auch richtig gut mit der Zeit und lernen taktil zu reagieren. Was aber, wenn sie es nicht schaffen, diesen Armkontakt herzustellen, weil sie das optische Reagieren nie geübt haben?
Grund Nr. 5: Es wird meist nicht hinterfragt was man da macht
Wenn wir ehrlich sind, dann konsumieren wir doch alle passiv das, was uns die Trainer zeigen – und zwar ohne es großartig zu hinterfragen. Wir nehmen es einfach als bare Münze (zumindest in den ersten Trainingsjahren).
Und wieso sollten wir auch daran zweifeln. Der Trainer hat ja auch ein Vielfaches an Erfahrung. Er (bzw. sie) muss sich also besser auskennen als wir. Nicht wahr?
FALSCH.
Das mag stimmen, wenn es um die Kampfkunst an sich geht. Es hat schon einen Grund warum er/sie vorne steht und vorzeigt – und warum eben du nicht da vorne stehst. Er muss also in dem was er tut einen Vorsprung gegenüber dir haben.
Und genau das ist der springende Punkt: Er hat in dem, was er tut und unterrichtet einen Vorsprung. Wenn er dich in Karate unterrichtet, dann wohl deshalb, weil er da einen Vorsprung hat gegenüber dir. Und wenn er Wing Chun unterrichtet, hat er wohl da einen Vorsprung.
Das bedeutet aber nicht, dass er sich auch auskennt, wenn es um realistische Selbstverteidigung geht.
Ich zum Beispiel war 10 Jahre lang Mitglied in der ETWO. Wir haben da auch oft Schwingerabwehren geübt.
Doch fast jedes Mal übten wir es so, dass der Trainingspartner außerhalb der Schlag- und Trittdistanz stand und erstmal einen Schritt brauchte um uns anzugreifen. Und dann kam der Schwinger auch jedes Mal schön rund und horizontal zum Boden.
In der Realität aber wird das wohl kaum vorkommen. Da steht der Gegner schon viel enger und schlägt ansatzlos und leicht schräg von oben herab auf dein Kinn.
Schau dir am besten dieses Video an, dann weißt du was ich meine:
Wie oft glaubst du haben wir das in den 10 Jahren meiner Mitgliedschaft in der EWTO trainiert (und ich muss dazusagen, dass ich sehr fleißig zu den Gruppentrainings gegangen bin) ?
Ich verrate dir wie oft:
KEIN EINZIGES MAL
… Aus diesen Gründen ist Kampfkunst nicht gleichzusetzen mit Selbstverteidigung.
Das ist auch nicht weiter schlimm, so lange die Trainer nicht behaupten, dass ihre Kampfkunst die beste Selbstverteidigung ist.
Doch leider machen viele genau das. Und das finde ich echt unverantwortlich. Ein Anfänger glaubt seinem Kampfkunstlehrer das vielleicht und fühlt sich sicher, obwohl er keinen Grund dazu hätte.
Und genau deshalb habe ich diesen Beitrag geschrieben.
Denn ich hoffe damit etwas zur Aufklärung beitragen zu können. Das ist nämlich auch das Ziel meiner 7-teiligen Serie „7 Dinge, die dir dein Kampfkunstlehrer verschwiegen hat„.
Dies war heute der erste Teil dieser Serie. Teil 2 folgt nächsten Mittwoch. Dann geht es um das Training an sich. Und auch darum, dass du selbst die Initiative ergreifen musst, wenn du an Selbstverteidigung interessiert bist …
P.S.
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Du willst Selbstverteidigung lernen, die wirklich funktioniert?
Wenn ja, dann schau hier mal vorbei:
Selbstverteidigung lernen – Schritt für Schritt
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