Oh wie oft habe ich das in meiner aktiven Zeit in der EWTO gehört …
„Der Körper braucht einfach die Jahre um das Gelernte zu verdauen. Deshalb dauert es mindestens 20 Jahre um Meister zu werden (und somit den 5. Höheren Grad im Wing Tsun zu erreichen)“
Doch stimmt das wirklich? Dauert es auf jeden Fall mindestens 20 Jahre um nennenswerte Fähigkeiten zu erlangen – ohne auch nur eine klitzekleine Chance, dass es schneller gehen kann?
Tja … Bruce Lee brauchte nicht so lange um richtig gut zu werden. Und einige Wing Tsun Großmeister wie Leung Ting und Keith Kernspecht auch nicht. Also muss es wohl auch schneller gehen …
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(Dies ist ein Beitrag im Rahmen der Artikelserie
„7 Dinge, die dir dein Kampfkunstlehrer verschwiegen hat„)
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Die Geschichte dreier Meister …
Kennst du die 10.000 Stunden Regel? Sie besagt, dass du dich mindestens 10.000 Stunden mit einer Sache beschäftigen musst, um die Chance auf wirklich gute Leistungen zu haben.
Oder wieso glaubst du wurden die vorhin genannten Herren – also Bruce Lee und die beiden Wing Tsun Großmeister – in so kurzer Zeit so gut?
Weil sie zweimal die Woche für jeweils 1,5 Stunden zum Training gegangen sind? Wohl kaum.
In einem Interview wurde Keith Kernspecht mal gefragt, wie viel er denn die letzten Jahrzehnte so trainiert hat.
Er konnte zwar keine konkrete Zahl nennen. Doch er meinte, es waren über die vielen Jahre in denen er Wing Tsun trainierte, jeden Tag MINDESTENS zwei Stunden – von Krankheit und so mal abgesehen.
Er hat also über Jahrzehnte hinweg im Minimum jeden einzelnen Tag zwei Stunden – oder eben auch mal deutlich mehr – Wing Tsun trainiert.
Oder nehmen wir mal die Trainingsgewohnheiten von Bruce Lee her: In seinem Buch „The Art of Expressing the Human Body“ findet sich auch ein Auszug aus seinem Trainingstagebuch aus dem Jahre 1968.
Daraus kann man entnehmen, dass Bruce Lee zum einen mal jeden Tag trainiert hat.
Und zum anderen kann man daraus entnehmen, dass er wirklich jede freie Minute trainiert hat. Er hat darin nämlich immer mal wieder wichtige Termine vermerkt, die er wahrnehmen musste. Doch das hat ihn keineswegs von seinem Training abgehalten.
Er hat einfach öfter am Tag trainiert. Zum Beispiel hat er bereits in der Früh den Boxsack bearbeitet, ist dann zu Mittag eine Runde laufen gegangen, hat am Nachmittag etwas Bauchmuskeltraining eingeschoben und dann am Abend mit Leuten wie Ted Wong und Chuck Norris Chi Sao trainiert.
Addiert man das auf, kamen jeden Tag etliche Stunden Training zusammen.
Als letztes Beispiel noch eine Anekdote über Leung Ting:
In seinem Buch „Biu Tze – The Thrusting-Fingers set“ liest man etwas darüber, wie er als noch junger Wing Tsun Übender einmal am Strand auf eine Blechdose gestiegen ist und sich dabei stark geschnitten hat.
Jeder andere wäre wohl ins Spital nähen gegangen. Nicht so der junge Leung Ting. Der ist lieber zum allabendlichen Training erschienen. Denn keinesfalls wollte er es ausfallen lassen.
Dabei erzählten andere Trainierende später, dass er sogar durch den Verband hindurch den gesamten Boden der Wing Tsun Schule mit Blut übersät hat.
Du siehst also:
Es kommt nicht darauf an, wie viele Jahre du eine Kampfkunst trainierst. Es kommt vor allem darauf an, wie viele Stunden du in all diesen Jahren trainiert hast.
Trainierst du drei Stunden die Woche, dann ist es kein Wunder, dass es Jahrzehnte dauert, um nennenswerte Resultate zu erzielen.
Die 10.000 Stunden Regel
Die 10.000 Stunden Regel stammt ursprünglich von einem Psychologen namens Anders Ericsson. Dieser meinte, dass es mindestens diese 10000 Stunden an Übung koste, um wirklich gut in einer Sache werden zu können. (siehe sein Buch „Peak: How all of us can achieve extraordinary things„)
Jetzt lass uns das aber mal näher durchrechnen …
Wenn du zu einem typischen Training gehst, dann dauert es so um die 1,5 Stunden. Manche trainieren nur eine Stunde, wieder andere zwei Stunden.
Doch für unsere Berechnung nehmen wir jetzt mal an, dass du in deiner Schule zwei mal die Woche für jeweils 1,5 Stunden trainieren kannst.
Davon ziehen wir jetzt mal zwei Wochen ab, in denen die Schule zu hat und weitere zwei Wochen, in denen du in Urlaub oder krank bist.
Und wir nehmen weiters an, dass du voll motiviert bist und somit kein weiteres Training versäumst. Es bleiben also unterm Strich 48 Wochen zu je 3 Stunden Training im Jahr.
(Wir nehmen jetzt nicht an, dass du zusätzlich daheim trainierst, denn das tut sowieso fast niemand.)
Somit sind das im Jahr 48 x 3 = 144 Stunden Training.
Zusätzlich nimmst du vielleicht noch an ein paar Seminaren teil, die am Wochenende stattfinden. Sagen wir mal das macht noch zusätzlich drei Stunden im Monat, was sich auf 12 x 3 = 36 Stunden beläuft.
In Summe macht das dann 144 + 36 = 180 Stunden Training im Jahr.
Wie lange dauert es also nun, um laut der 10.000 Stunden Regel in die Zone für Spitzenleistungen zu gelangen?
Wir müssen dazu einfach die 10.000 durch die 180 Stunden im Jahr dividieren und erhalten einen Wert von 55 1/2 Jahren.
Wenn du also in welcher Kampfkunst auch immer gut werden willst, dann solltest du zu Beginn maximal 30 Jahre alt sein, um eine Chance zu haben, das in diesem Leben noch zu erreichen …
😮 😮 😮
… Doch sagen wir jetzt mal, du bist ähnlich „verrückt“ wie die drei vorhin genannten Herren und trainierst JEDEN Tag einige Stunden.
Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass es durchaus möglich ist, im Schnitt am Tag drei Stunden zu trainieren (und zwar nicht nur als Arbeitsloser bzw. im Urlaub Befindlicher). Man braucht dazu nur gute Gewohnheiten und entsprechende Begeisterung für die Sache (momentan trainiere ich selbst allerdings im Schnitt „nur“ 1,5 bis 2 Stunden am Tag).
Und nehmen wir weiters an, dass du zwei Wochen im Jahr aufgrund von Krankheit ausfällst und zwei Wochen irgendwo im Süden verbringst und keinen Bock auf Training hast.
Es bleiben also wieder 48 Wochen übrig, an denen du jeden Tag durchschnittlich drei Stunden trainierst.
Diese 3 Stunden setzen sich zusammen aus dem wöchentlichen Gruppentraining, diversen Seminaren, Solotraining zuhause und privates Training mit Gleichgesinnten. Was man getrost ebenfalls dazuzählen kann ist Unterrichtstätigkeit. Denn unterrichten macht dich selbst auch besser und nicht nur die, die du unterrichtest.
Im Jahr macht das dann 48 x 7 Tage = 336 Tage mal 3 = ca 1.000 Stunden an Training pro Jahr.
Und damit wärst du dann bei 10 Jahren um eine wirklich gute Leistung erreichen zu können.
Ach ja: Um Meister im Wing Tsun zu werden (also um den 5. Grad zu erreichen), brauchst du wohl nicht die ganzen 10.000 Stunden. Die Meisterschaft erstreckt sich da nämlich vom 5. bis zum 8. Grad. Und mit 10.000 Stunden bist du da eher schon ein hoher Meistergrad. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es theoretisch möglich wäre, schon nach fünf oder sechs Jahren gut genug für den fünften Grad zu sein.
Voraussetzung ist natürlich, dass das Training auch von entsprechender Qualität ist …
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Du suchst nach umfangreichen und logisch aufeinander aufbauenden Videoanleitungen für dein Wing-Chun-Training?
Wenn ja, dann habe ich etwas für dich:
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Die wahre Bedeutung der 10.000 Stunden Regel
Leider ist es jetzt so, dass es nicht einfach genügt, sich nur 10.000 Stunden irgendwie mit einer Sache zu beschäftigen und allein dadurch in den Bereich von Spitzenleistungen zu gelangen.
Es kommt auch noch darauf an, WIE man in all diesen Stunden übt.
Das betonte auch schon eingangs erwähnter Anders Ericsson. Dieser hat nämlich nicht behauptet, dass es einfach nur genügt, sich 10.000 Stunden mit einer Sache zu beschäftigen um richtig gut zu werden.
Er sprach von Anfang an von „deliberate Practise“, also von bewusstem Üben.
Somit sind nicht einmal die 10.000 Stunden nach 55 1/2 Jahren Training bei drei Stunden die Woche eine Garantie für großes Können.
Wenn man die ganze Zeit falsch trainiert hat und die meiste Zeit nie wirklich bei der Sache war, dann ist man selbst dann nicht wirklich gut.
Wer wirklich herausragend werden möchte, muss …
… mehr trainieren als der Durchschnitt
… konzentriert bei der Sache sein
… auch an seinen Schwächen arbeiten
… auch mal über den Tellerrand blicken
… gute Trainer aufsuchen.
Apropos „gute Trainer aufsuchen“: Es ist auch wichtig, dass man nicht das falsche übt.
Es gibt Trainer, die wüssten zwar wie es richtig geht, dir aber manche Sachen vorenthalten, weil das ja im Programm eigentlich viel später kommt. Es sozusagen „eine höhere Technik“ ist (was übrigens Quatsch ist – es gibt keine höheren Techniken).
Das Tragische dabei: Etwas falsch gelerntes wieder zu „entlernen“ dauert viel länger. Manche sprechen davon, dass es 10 mal länger dauert es sich wieder abzugewöhnen als es gedauert hat, es zu lernen.
Noch so ein Grund, warum es in vielen Wing Chun Verbänden so lange dauern muss um Meister zu werden …
10.000 Stunden sind noch nicht das Ende …
Natürlich ist es jetzt nicht so, dass man 9.999 Stunden trainiert und nichts dabei herausschaut. Und dann bumm … ist man ein großartiger Kampfkünstler.
Man entwickelt sich stetig weiter. Jedes Mal wenn du trainierst (und dabei auch noch voll bei der Sache bist) wirst du etwas besser – und wenn es auch nur ein ganz klein wenig ist.
Und selbst nach diesen 10.000 Stunden ist noch Entwicklung möglich. Ich glaube nämlich nicht, dass du nach 10.000 Stunden schon auf einem Großmeisterniveau bist. Hierzu bedarf es wahrscheinlich noch um einiges mehr …
P.S.
Leider hat die Sache noch einen Haken …
Laut einiger Studien zu diesem Thema spielt auch die genetische Veranlagung – sprich Talent – eine Rolle. Selbst unter großem Trainingsaufwand ist es nicht allen von uns möglich der nächste Bruce Lee zu werden.
Verbessern kann sich aber jeder von uns. Und darum sollte es vor allem gehen: Jahr für Jahr ein wenig besser zu werden 😉
Fitnesstrainer meint
Sehr informativer Beitrag! Vielen Dank fürs teilen!