Vor allem wenn du einen Kung Fu Stil trainierst, dann wird dir das sicher bekannt vorkommen. Ich habe es in meiner aktiven Zeit bei der EWTO (eine große Wing Chun Organisation) ja auch gefühlte tausend Mal gehört:
„Diese Dinge lernst du erst viel später. Vorher musst du noch das, das, das und natürlich noch das lernen, bis du dafür bereit bist.“
Und auch der Wing Chun Großmeister Keith Kernspecht wurde es ja nie müde zu betonen, dass man für die „höheren“ Kung Fu Techniken erstmal ein aufnahmefähiges Gefäß entwickeln muss um die Informationen überhaupt verdauen zu können.
Doch auch wenn dies ein Kung Fu Großmeister gesagt hat und ich eben kein solcher bin, behaupte ich mal, dass das so nicht ganz richtig ist.
Und ich behaupte es nicht nur, ich beweise es dir sogar …
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(Dies ist ein Beitrag im Rahmen der Artikelserie
„7 Dinge, die dir dein Kampfkunstlehrer verschwiegen hat„)
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Dazu möchte ich dir etwas über meine Erfahrungen mit drei Kung Fu Stilen erzählen. Zum einen sind das meine Erfahrungen mit Wing Chun – einem Kung Fu Stil, mit dem ich mich schon seit über zehn Jahren beschäftige.
Zum anderen ist das Jeet Kune Do / Jun Fan Kung Fu, mit dem ich mich mittlerweile ebenfalls schon eine ganze Weile beschäftige.
Und schließlich ist das auch noch Tai Chi, mit dem ich mich zwar erst seit kurzem beschäftige, aber es genügt, um dir veranschaulichen zu können, dass es eben keine „höheren“ Kung Fu Techniken gibt.
Doch wie immer der Reihe nach …
Meine Erfahrungen im Wing Chun Kung Fu (I)
Im Wing Chun Kung Fu ist es traditionell genau vorgegeben, was genau du wann lernen wirst.
Wobei das Training im Wing Chun dreigeteilt ist und aus Formentraining, Chi Sao (= taktiles Reaktionstraining) und Lat Sao (= Freikampftraining) besteht. (Für Details zu diesen Begriffen siehe „Wichtige Wing Chun Begriffe – einfach erklärt„)
Die Idee dahinter ist, dass du in den Formen erstmal für dich allein – also noch ohne Trainingspartner – die einzelnen Bewegungen lernst und dann versuchst, diese mit Partner und aus bestehendem Armkontakt (= Chi Sao) bzw. ohne vorherigen Armkontakt (= Lat Sao) umzusetzen.
Und so gut wie jeder Wing Chun Schüler lernt zuerst die Siu Nim Tao, dann die Cham Kiu und schlussendlich Biu Tze und Holzpuppe (wie gesagt: All diese Begriffe kannst du hier nachlesen)
Dabei wird fast kein Ausbilder, Sifu oder Meister müde zu betonen, dass du zuerst mal die Kenntnisse aus der Cham Kiu und den zugehörigen Sektionen und Kampfanwendungen brauchst, um später die Biu Tze korrekt umsetzen zu können.
Und genau da bin ich anderer Meinung. Mir kommt es manchmal so vor, als sei sogar das Gegenteil der Fall.
Denn: In der Cham Kiu lernst du, brav dein Gewicht auf das hintere Bein zu geben und den Oberkörper ständig gerade zu halten. Ein Pendeln nach hinten oder gar zur Seite hat da keinen Platz.
In der Biu Tze ist das naturgemäß anders. Jetzt ist Pendeln nicht nur erlaubt, sondern sogar erwünscht.
Doch wenn der Schüler endlich so weit ist, sich mit der Biu Tze beschäftigen zu können, hat er sich bereits viele Jahre mit Siu Nim Tao und Cham Kiu beschäftigt und als Außenstehender könnte man glauben, er habe einen Besenstiel in seinem Hintern stecken, wenn er trainiert 😉
Und nach dieser jahrelangen Konditionierung wird auf einmal vom Trainierenden gefordert, sich frei zu bewegen.
Der Schüler, der sich erst nach Jahren des Trainings mit der Biu Tze beschäftigen darf, hat also in meinen Augen sogar einen Nachteil gegenüber jemandem, der bisher kein Wing Chun trainiert hat. Denn er muss sich jetzt wieder mühsam einige Dinge abgewöhnen, die er sich über die Jahre angewöhnt hat.
Kein Wunder auch, dass die meisten Wing Chun Praktizierenden anfangs die Biu Tze (und damit meine ich vor allem die Umsetzung im Chi Sao und im Lat Sao und nicht unbedingt die Form selbst) für so schwierig zu erlernen halten. Sie müssen ja erstmal mit alten Mustern brechen um sie erlernen zu können.
(Aber versteh mich bitte jetzt nicht falsch: Ich sage damit nicht, dass man sich die Cham Kiu sparen sollte. Sie ist nämlich genauso wichtig wie die Biu Tze. Nur sollte man es dem Anfänger auch gestatten sich freier zu bewegen, damit der Übergang zur Biu Tze nicht so schwer ist.)
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Du suchst nach umfangreichen und logisch aufeinander aufbauenden Videoanleitungen für dein Wing-Chun-Training?
Wenn ja, dann habe ich etwas für dich:
Wing Chun lernen – bequem von zu Hause aus
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Meine Erfahrungen im Wing Chun Kung Fu (II)
Im traditionellen Wing Chun Kung Fu gibt es noch so eine wichtige Annahme: Und zwar, dass man zuerst alle Techniken korrekt lernen muss um sie später als Meister wieder vergessen zu können. Will heißen: Jeder entwickelt mit der Zeit seine persönliche Art zu kämpfen.
Und dieser Gedanke ist ja auch nicht so schlecht. Man muss dem Anfänger ja auch etwas an die Hand geben an dem er sich erstmal orientieren kann.
Allerdings neigen manche Trainer wohl auch zu Übertreibungen, wenn sie beim Training der Biu Tze Form dem Übenden sogar bei der Ausführung des Tan Sao die Finger glatt streifen, damit man wie im Lehrbuch dasteht (und damit zeigen diese Trainer auch, dass sie etwas falsch verstanden haben).
Viele – selbst fortgeschrittene – Wing Chun Praktizierende versteifen sich so dermaßen in Förmlichkeiten, dass sie niemals freie Angriffe trainieren, da die Ausführung der Techniken womöglich schlampig werden würde.
Meine Erfahrungen mit Tai Chi Pushing Hands
Im Tai Chi dürfte die Einstellung – wohl auch typisch chinesisch – recht ähnlich sein. Auch dort habe ich von meinem Tai Chi Lehrer gehört, dass man sich zuerst mal viele Jahre mit Pushing Hands beschäftigen muss, bevor man dies kampfmäßig trainiert.
Aber was beim Tai Chi Training noch viel interessanter war, war etwas ganz anderes:
In meiner allerersten Stunde haben wir trainiert dem Druck des Gegners nachzugeben, wenn er uns am Körper schubst. Wir sollten dabei weich nachgeben und den Angriff ins Leere laufen lassen. Dabei gab es aber jetzt nicht die Vorgabe, man müsse sich in einem bestimmten Winkel verdrehen.
Nein. Man solle sich am Gegner anpassen. Und da dieser eben unterschiedlich drückt, muss man auch unterschiedlich – sprich frei – darauf reagieren.
Und das schon in der allerersten Stunde! Im traditionellen Wing Chun Unterricht einfach undenkbar.
Die Pointe ist das aber noch nicht:
Die Pointe in dieser Geschichte ist, dass der Tai Chi Meister am Ende der Stunde meinte, dass der Schwerpunkt des Trainings diesmal auf die Grundlagen gelegt wurde. Beim nächsten Training in der folgenden Woche würden wir uns etwas interessanterem, sprich „höherem“, widmen.
Und zwar der Form!!! 😮
Das muss man sich mal vorstellen! Bei den meisten Wing Chun Praktizierenden würde man keine Begeisterungsströme auslösen, wenn der Trainer meint, dass man sich die ganze nächste Stunde mit der Form beschäftigt …
Du siehst also:
- Im Wing Chun wird freies Bewegen und Nachgeben als eine höhere Kung Fu Technik angesehen.
- Im Tai Chi allerdings werden Formen als eine höhere Kung Fu Technik wahrgenommen (allerdings handelt es sich zumindest in diesem Fall um eine Partnerform und nicht um eine Soloform wie im Wing Chun).
Doch werfen wir zum Abschluss noch einen Blick auf meine Erfahrungen mit dem Jeet Kune Do …
Meine Erfahrungen mit Jeet Kune Do
Jeet Kune Do wurde von Bruce Lee ins Leben gerufen und ist eigentlich mehr eine Philosophie als ein Kampfstil. (Deshalb sagen viele zu seinem Kampfstil auch Jun Fan Kung Fu statt Jeet Kune Do und benennen diese Art zu Kämpfen damit nach ihm – denn eigentlich hieß er Lee Jun-Fan und nicht Bruce Lee).
Im Jeet Kune Do bewegt man sich von Anfang an viel freier als im Wing Chun. Und nicht nur das: Formen spielen dort – wenn überhaupt – nur eine untergeordnete Rolle.
Und man beschäftigt sich von Anfang an mit der Umsetzung der gelernten Kung Fu Techniken im Freikampf. Dabei versteift man sich der Philosophie Bruce Lee`s entsprechend auch nicht auf die genaue Ausführung der Techniken, wie sie im Lehrbuch stehen.
Im Jeet Kune Do ist man vielmehr der Ansicht, dass wir uns alle voneinander unterscheiden. Und daher sollten wir uns auch nie gleich bewegen, sondern unseren eigenen „Stil“ finden.
Interessant ist dabei auch, dass man zum Beispiel im Jeet Kune Do Trapping von Anfang an auch Bewegungen aus der Biu Tze wie zum Beispiel den Fingerstich trainiert. (Anmerkung: Bruce Lee trainierte bereits als Jugendlicher Wing Chun Kung Fu. Viele seiner Techniken hatte er daher von dort übernommen.)
Damit ist man im Jeet Kune Do ebenfalls schon von jeher der Ansicht, dass es keine höheren Techniken gibt …
Und die Moral daraus …
Wenn dir dein Kampfkunsttrainer sagt, dass dies und das erst später kommt, weil du jetzt noch nicht bereit dafür bist, dann liegt das vielleicht daran, dass er noch nie eine andere Kampfkunst trainiert hat.
Und das ist schade für ihn. Dadurch entgeht ihm nämlich eine Menge.
Oder wie heißt es so schön:
Es ist schwer das Universum zu verstehen, wenn man nur einen Planeten studiert.
(Dieses Zitat stammt laut zitatezumnachdenken.com vom berühmten Samurai Miyamoto Musashi.)
P.S.
Wenn du nach Kung Fu Techniken suchst, die du zuhause trainieren kannst, dann schau doch mal in meine Youtube-Playlist mit Lehrvideos zu den Themen Wing Chun, Jeet Kune Do und Selbstverteidigung:
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