Die Biu Tze / Biu Djie – was übersetzt so viel heißt wie „stoßende Finger“ – ist die dritte waffenlose Form im Wing Chun. Und sie ist zugleich die letzte Form, die noch ohne Hilfsmittel auskommt.
Denn: Die vierte und damit letzte waffenlose Form – die Rede ist von der Muk Yan Chong (= Holzpuppenform) – wird an einer Holzpuppe trainiert. Und die beiden letzten Formen werden mit Waffen durchgeführt, nämlich mit dem Langstock und den Doppelmessern.
Somit ist die Biu Tze etwas besonderes – und sie baut auch auf den bisher gelernten Formen (= Siu Nim Tao und Cham Kiu) auf. Doch der Reihe nach …
Der logische Aufbau des Formentrainings:
Als erstes lernt man im Wing Chun die Siu Nim Tao (= die „Kleine-Idee-Form“).
Dort steht man wie angewurzelt im IRAS und bewegt erstmal nur Arme und Oberkörper. Der Schüler soll nämlich zuerst lernen, Ober- und Unterkörper getrennt voneinander ansteuern zu können. Und er trainiert dadurch gleichzeitig seine Standkraft.
Weitere Infos zur Siu Nim Tao erhältst du hier.
Als zweites lernt man im Wing Chun die Cham Kiu (= die „Brücken-legen-Form“).
Jetzt macht man auch Wendungen, Drehungen und Tritte. Somit lernt man Ober- und Unterkörper zu koordinieren. Und man trainiert nun auch flüssiger. Deshalb gewöhnt man sich nach und nach an, im Kampf nicht einfach innezuhalten sondern immer weiter zu machen.
Weitere Infos zur Cham Kiu erhältst du hier.
Und dann folgt als letztes noch die Biu Tze (= die „Stoßende-Finger-Form“).
Nicht nur, dass wir jetzt Ober- und Unterkörper koordinieren. Wir dürfen uns sogar nach vor und zurück, sowie auch zur Seite bewegen. Etwas, dass man in der Cham Kiu noch nicht durfte. Und auch die Angriffe sind nun nicht mehr nur streng linear wie in den ersten beiden Formen.
Somit wird man nun immer freier in seinem Bewegen. Vielleicht beginnt daher auch erst hier das wahre Wing Chun …
Um was geht es bei der Biu Tze?
Meines Erachtens geht es in der Biu Tze vor allem um drei Dinge (sie bietet noch mehr Vorteile, doch diese drei Dinge stehen im Vordergrund):
#1 Die Biu Tze trainiert den Rumpf
Natürlich haben wir bereits in der Siu Nim Tao und in der Cham Kiu unseren Rumpf trainiert. Doch die Biu Tze ist wohl die wichtigste Form, wenn es um die Rumpfentwicklung geht.
Und das ist auch nicht ohne Grund: Würden wir nämlich nur unsere Arme bewegen für Abwehr und Angriff, dann hätten wir nicht besonders viel Power. Fügen wir allerdings noch den Rumpf hinzu, dann spüren wir förmlich, wie sich das auf unsere Durchschlagskraft auswirkt. Der Unterschied ist gewaltig.
#2 Die Biu Tze lehrt uns anzugreifen
In der Cham Kiu gingen wir eher noch davon aus, dass wir vom Gegner angegriffen werden, den Angriff ableiten und gleichzeitig einen Gegenangriff starten. Wir sind demnach in der eher passiven Rolle.
In der Biu Tze ist das nun anders: Jetzt greifen WIR an. Oder besser gesagt: Wir greifen in den Angriff des Gegners hinein an.
Wir lassen also oftmals dem anderen scheinbar den Vortritt – und stehen am Ende dennoch als Sieger da. Die Hand die abwehrt, wird also die Hand, die letztendlich angreift. Der Vorteil: Wohl kein Gegner rechnet damit.
#3 Die Biu Tze liefert uns Notfalltechniken
Jeder Kampf ist chaotisch. Wir können uns also nicht darauf verlassen, dass alles nach Plan abläuft. Da brauchen wir Notfalltechniken, die uns selbst aus schier ausweglosen Situationen noch befreien.
Und genau das liefert uns die Biu Tze (beziehungsweise natürlich die entsprechenden Sektionen und Lat-Sao-Übungen).
Doch brauchen wir die Biu Tze überhaupt?
Im letzten Artikel zur Cham Kiu habe ich geschrieben, dass wir hier unser Studium des Wing Chun theoretisch beenden könnten.
Denn die Cham Kiu – in Kombination mit dem dazu passenden Chi Sao und Lat Sao – liefert uns alles, um uns verteidigen zu können.
Dennoch hat es natürlich Vorteile, sich darauf aufbauend mit der Biu Tze zu beschäftigen. Allein schon aus dem ersten genannten Grund ist das sinnvoll – also wegen des Aufbaus des Rumpfes.
Denn Power und Schlagkraft können wir wohl immer gebrauchen. Und das dynamische Üben der Biu Tze kann darüber hinaus auch Wunder wirken in punkto Kampfgeist. Zumindest ist das mein Eindruck davon.
Also brauchen wir nun die Biu Tze? Nicht zwangsläufig. Doch gleichzeitig liefert sie uns nicht zu unterschätzende Vorteile.
Und deshalb glaube ich, dass sie für einen fortgeschrittenen Wing Chun Übenden sinnvoll ist und ihn auf eine neue Stufe heben kann. Doch das gilt nur, wenn man nicht nur die Form an sich trainiert, sondern auch das passende Chi Sao und Lat Sao. Aber das trifft auf die Cham Kiu genauso zu.
Was sollte ich beim Training der Biu Tze beachten?
Was das Training der Biu Tze betrifft, habe ich vor allem drei wichtige Tipps für dich:
#1 Zuerst die anderen beiden Formen trainieren
Die Biu Tze löst unter Trainierenden eine große Faszination aus. Fast jeder Anfänger möchte so schnell wie irgend möglich mit dem Training der Biu Tze starten.
Doch leider muss man zuvor ein sicheres Fundament bauen. Und das geht nur durch fleißiges Üben der ersten beiden Formen – also der Siu Nim Tao und der Cham Kiu.
Meines Erachtens sollten beide Formen erstmal einige hundert Mal achtsam trainiert werden, bevor man sich an das Training der Biu Tze macht.
#2 Du musst nicht unbedingt fünf Jahre warten
Besonders fleißige Schüler trainieren Siu Nim Tao und Cham Kiu oft mehrere Male am Tag. Nach wenigen Monaten haben sie daher das vorhin angesprochene Erfordernis erfüllt. Doch trotzdem stellt sich für sie ein Problem: Die Biu Tze lernt man in der Regel relativ spät.
Bei mir war es zum Beispiel so, dass ich in den ersten beiden Schülergraden die Siu Nim Tao lernte. In den Schülergraden 3 bis 5 war dann die Cham Kiu an der Reihe.
Und all das wurde bis zum 1. Technikergrad immer wieder wiederholt. Und erst auf den 2. Technikergrad durfte ich die Biu Tze lernen.
Wenn du aber so wie ich sehr motiviert bist und auch zuhause fleißig übst, dann bist du schon viel früher bereit dazu, die Biu Tze Form zu lernen.
Abhilfe können da Onlineprogramme liefern wie zum Beispiel unser Mitgliederbereich für Wing Chun. Da kannst du die Biu Tze bereits viel früher lernen. Es liegt ganz bei dir 😉
#3 Übe die Biu Tze auch dynamisch
Die Siu Nim Tao sollte man in der Regel eher langsam und konzentriert üben. Dabei darf ruhig auch jede einzelne Bewegung kurz einrasten.
In der Cham Kiu allerdings sollte man als Fortgeschrittener immer häufiger in einem Fluss trainieren – also ganz ohne Stopps.
In der Biu Tze kann nun eine Bewegung die nächste einleiten, was zu einem sehr dynamischen Üben führt. Demnach wird die Biu Tze von den drei genannten Formen auch am schnellsten ausgeführt.
Doch beachte: Anfangs geht es erstmal um den korrekten Ablauf und um das richtige Einnehmen der Positionen. Doch nach einer Weile macht es Sinn, die Biu Tze zumindest hin und wieder wirklich dynamisch zu üben und dabei den ganzen Körper einzusetzen.
In diesem Sinne: Viel Spaß beim Training deiner Formen!
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