In den letzten Jahren wurde das Innere Wing Chun sehr populär. Zu einem großen Teil verantwortlich dafür ist ganz sicher der Großmeister der EWTO – Keith Kernspecht (weshalb ich in der Überschrift und im weiteren Beitrag die Schreibweise Wing Tsun verwende).
Doch was ist inneres Wing Tsun genau? Gibt es auch ein äußeres Wing Tsun? Und ist Wing Tsun denn nicht sowieso eine innere Kampfkunst?
All diesen Fragen möchte ich im heutigen Beitrag nachgehen …
Was ist eine innere Kampfkunst?
Eine innere Kampfkunst wie zum Beispiel Tai Chi richtet zuerst den Blick auf sich selbst. Man trainiert Formen, Schrittarbeit und die Koordination von Armen, Beinen und Oberkörper.
Erst in einem zweiten Schritt wird dann ein Gegner miteinbezogen.
All das klingt bereits sehr stark nach Wing Tsun mit all den Formen wie Siu Nim Tao, Cham Kiu und Biu Tze.
Kein Wunder also, dass jeder vom Wing Tsun behauptet, es sei eine innere Kampfkunst.
Doch ist das wirklich so? Ist Wing Tsun in jedem Fall eine innere Kampfkunst – unabhängig davon wer es unterrichtet und wie es umgesetzt wird?
Ich bin keineswegs dieser Meinung …
Ist Wing Tsun eine innere Kampfkunst?
Ich behaupte: Wing Tsun ist nicht per se eine innere Kampfkunst. Es kommt nämlich darauf an, wie es im Einzelnen unterrichtet wird.
Unterrichtet man es ganz extrem gesprochen ohne Formen, dann wird es wohl nicht als innere Kampfkunst unterrichtet.
Das hat zwar für einen Anfänger in punkto Selbstverteidigung einen starken Vorteil, weil man dadurch anfangs viel schneller Fortschritte macht. Doch auf lange Sicht wird man dadurch wohl nicht so gut werden, als wenn man das Training von Formen mit einbezogen hätte.
Und selbst wenn Formen unterrichtet werden, so heißt dies noch lange nicht, dass man auch inneres Wing Tsun praktiziert!
Denn ich kann Formen auf unterschiedlichste Art und Weise ausführen. Wenn meine vordringliche Intention darin besteht, dass ich Formen deshalb trainiere, weil sie mir Techniken zeigen, dann habe ich das Konzept des inneren Wing Tsun ganz sicher nicht verstanden.
Und dann kann am Ende auch keine innere Kampfkunst dabei herauskommen, nur weil ich die Bewegungen zwar scheinbar wie aus dem Lehrbuch korrekt ausführe, aber damit keine wirklichen Fähigkeiten aufbaue.
Der wahre Unterschied zwischen
innerem und äußerem Wing Tsun
Nach meinem bisher erworbenen Verständnis für inneres Wing Tsun kann ich folgendes behaupten:
Beim traditionellen (äußeren) Wing Tsun geht es vor allem darum, die gegnerischen Angriffe abzuwehren, indem man sie ableitet und für den eigenen Angriff ausnutzt.
Und da haben durchaus auch Formen Platz. Und auch das traditionelle Chi Sao macht hier Sinn.
Doch im Mittelpunkt steht die Vorstellung, dass man sich an den Gegner anpasst. Man geht also vom Außen ins Innen. Der Gegner greift uns an und stellt uns nun vor die Aufgabe, entsprechend zu reagieren.
Antworten wir mit äußerem Wing Tsun, dann machen wir in der Regel zwar keinen harten Block, sondern probieren abzuleiten, zu manipulieren und einen Keil in den Angriff zu treiben um ihn abzulenken.
Und das entscheidende dabei ist: Wir betrachten zuerst den Gegner und seine Aktionen. Wir sind der stille Beobachter, der sich anpasst.
Beim inneren Wing Tsun geht es darum, dass wir uns zuerst selbst entwickeln und achtsam werden. Und wir richten unseren Blick eben nicht in erster Linie auf unseren Gegner sondern auf uns selbst.
Sodann wird der Gegner nicht mehr als Störung durch uns empfunden. Wir nehmen vielmehr Kontakt auf und haben von da weg das Zepter in der Hand. Wir vereinnahmen den Gegner und steuern ihn wie es uns beliebt.
Das heißt, wir lösen uns vom bloßen Reagieren und fangen an zu agieren.
Inneres Wing Tsun geht also nicht mehr vom Außen ins Innen. Vielmehr beginnen wir im Innen und gehen von da weg ins Außen.
… … …
Wenn du jetzt gar nicht verstehst was ich meine, dann mach dir nichts draus. Mir ist es vor einiger Zeit noch genauso ergangen wie dir. Das Problem an der Sache ist nämlich, dass man die Sache selbst erfahren muss um es zu verstehen. Allein mit Logik kann man das Wesen einer inneren Kampfkunst leider nicht erfassen.
Was ist besser:
Inneres oder äußeres Wing Tsun?
Damit kommen wir zu der Frage, die sich fast jeder von uns stellt:
Was ist denn nun besser: Inneres oder äußeres Wing Tsun? Was sollte ich in Zukunft trainieren? Und welchen Schwerpunkt sollte ich als Anfänger setzen?
Nur leider sind diese Fragen alles andere als leicht zu beantworten. Denn es kommt in erster Linie auf dich und deine Ziele an (Aber vor allem wird es auch viel leichter sein, jemanden zu finden, der äußeres Wing Tsun gut unterrichtet als jemanden, der inneres Wing Tsun genauso kompetent unterrichtet.):
Bist du in erster Linie an Selbstverteidigung interessiert, dann bist du mit klassischem äußeren Wing Tsun besser bedient. (siehe auch: Wing Chun zur Selbstverteidigung? Eignet sich da Wing Chun überhaupt dazu?)
Ist es aber dein Ziel langfristig gesehen möglichst gut zu werden, dann solltest du dem inneren Wing Tsun zumindest eine Chance geben. Das gilt umso mehr, wenn du vom Typ her jemand bist, der nicht einfach nur drauflos dreschen möchte in einer Kampfsituation, sondern ruhig und bedächtig agieren möchte.
… … …
In unserem Mitgliederbereich für Wing Tsun haben wir den Fokus eher auf das klassische äußere Wing Tsun gelegt – speziell am Anfang. Aber wir gehen dort ebenso auf das innere Wing Tsun ein – und ich persönlich bin die letzten Jahre ein wirklich großer Fan davon geworden und verfolge diesen Weg natürlich weiterhin. Ich werde dies alles auch in unserem Mitgliederbereich integrieren 😉
An dieser Stelle wünsche ich dir noch viel Freude
beim Training des Wing Chun / Wing Tsun!
Martin Grünstäudl – kampfkunstblog.com
Tom meint
Hallo,
Zu Ihrem besseren Verständnis eine Bemerkung von mir.
Zitat „ Inneres Wing Tsun geht also nicht mehr vom Außen ins Innen. Vielmehr beginnen wir im Innen und gehen von da weg ins Außen.“
Wir beginnen mit uns selbst, und holen den Oponenten zu uns hinein. Somit erst kann es eine nämlich unsere Bewegung geben. Es ist wie Tanzen.
Mit freundlichen Grüssen
Tom
BestBuddies meint
Hallo!
Ich bin durch einen Umweg auf diese Seite gestoßen und finde den Beitrag sehr interessant, da ich selbst vor einigen Jahren von *ing*un (die Lineage tut nichts zur Sache) in einen inneren Stil gewechselt habe bzw. diesen als „Aufbauprogramm“ für meine Kampfkunst in mein Training integriert habe. Bis dahin habe ich ebenfalls mit „schwammigen“ Pseudo-Definitionen versucht um die Begriffe der „inneren“ und „äußeren“ KK herum zu lavieren.
Meine Erfahrungen aus den letzten Jahren im TJQ haben gezeigt, dass diese Definitionen schlichtweg falsch sind, zumindest, wenn es um die ECHTEN inneren Kampfkünste wie das TJQ (Yang-Stil) geht.
Des Pudels Kern ist folgender: EXTERNE Kampfkünste trainieren externe Bewegungen, egal ob solo (Form) oder mit Partner (Chisao, Drills, etc.) oder mit Gegner (Sparring, Wettkampf, whatever.). INTERNE oder INNERE Kampfkünste trainieren die Bewegung und Kontrolle der inneren Strukturen im Körper und zwar insbesondere – und das heraus zu finden, hat Jahre gedauert – faszial.
Im „echten“ TJQ trainiert man, durch gezielte Ansteuerung von muskulärer Tonusänderung (oft fälschlich als „Entspannung“ bezeichnet) eine spezielle Faszienspannung herzustellen, die sich idealerweise gesamtflächig über den Körper verteilt. Ist diese Faszialstimulation nach langjährigem Training gut genug ausgeprägt, so wird diese Struktur kraftschlüssig und ist in der Lage kinetische Energie zu absorbieren wie auch zu übertragen. Der Effekt, der sich dadurch ergibt ist dramatisch, denn einerseits stabilisiert sich dadurch die externe Struktur (Gelenkstabilität, Zentrierung, etc.) und zum zweiten kann der erfahrene Anwender die gegnerischen Kräfte in sein Fasziennetz leiten und dort neutralisieren, ohne dabei muskulär in irgendeiner Form beitragen zu müssen, was zu dem völlig schockierenden Erlebnis führt, dass man den TJQ-Experten mit muskulärer Kraft (Drücken, Schieben oder Ziehen)nicht bewegen kann, selbst dann nicht, wenn er sich scheinbar in einer biomechanisch schwachen Position befindet.
Fazit: Die inneren Kampfkünste trainieren die Kontrolle der inneren Körperstrukturen, i.e.S. hauptsächlich des faszialen Systems. Externe Bewegungen sind Manifestationen dieses Anspruchs, aber nicht typisches Merkmal der KK selbst. Anders gesagt: eine innere Kampfkunst erkennt man nicht an einer äußeren Bewegung. Erst wenn man jemanden berührt, der diese Bewegung ausführt, erkennt man den Unterschied augenblicklich. Oder, wie Sifu Adam Mizner es ausdrückt: Bei inneren KK bewegt sich im Inneren des Körpers mehr als im Äußeren: „Internal means inside (the body)“. Es ist etwas komplett anderes.
Liebe Grüße,
BestBuddies