Was das Wing Chun / Wing Tsun betrifft, gibt es im Internet zwei sehr gegensätzliche Meinungen:
Die einen behaupten, Wing Chun sei die beste Selbstverteidigung überhaupt. Es eigne sich perfekt für die Straße und sei eine ausgeklügelte Kampfkunst.
Die anderen behaupten, Wing Chun sei etwas für Träumer und man hätte damit keinerlei Chance. (Was sie vor allem meinen: Im Ring hätte man damit keine Chance.)
Wie so oft liege ich mit meiner Meinung irgendwo in der Mitte: Ich bin einerseits ein großer Fan von Wing Chun und glaube, dass es eine wunderbare Kampfkunst ist. Andererseits ist es wichtig, Wing Chun auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu trainieren, damit es sich zur Selbstverteidigung eignen kann.
Doch der Reihe nach …
Wing Chun als Selbstverteidigung:
Ich bin aus mehreren Gründen ein großer Fan der Kampfkunst Wing Chun. Einer dieser Gründe ist, dass es sich sehr wohl zur Selbstverteidigung eignet.
Doch man muss dabei unterscheiden, ob man die Kampfkunst Wing Chun an sich betrachtet oder, ob man andererseits beobachtet, wie man Wing Chun bei uns im deutschsprachigen Raum in der Regel trainiert.
Betrachtet man nämlich Wing Chun an sich, dann muss man feststellen, dass diese Kampfkunst alles beinhaltet, was man für eine effektive Selbstverteidigung benötigt.
Denn Wing Chun ist eine komplette Kampfkunst:
- Auch wenn wir uns in der Fauststoßdistanz am wohlsten fühlen, so haben wir auch Tritte, den Kampf in der Nahdistanz mit Ellbogen und Knie, sowie die Abwehr von Ringerangriffen und den Bodenkampf im Programm.
- Und wir befassen uns im Wing Chun bereits in den Schülerprogrammen mit dem einen oder anderen Spezialthema wie der Messer- und Stockabwehr sowie die Selbstverteidigung gegen mehrere Angreifer.
Betrachtet man das Wing Chun aber dahingehend, wie es normalerweise unterrichtet wird, dann eignet es sich nur mehr bedingt zum Erlernen von Selbstverteidigung.
Denn: Wenn man rein am Selbstverteidigungsaspekt interessiert ist, dann möchte man dies auch so schnell wie möglich lernen. Man möchte sich dann bereits in wenigen Monaten deutlich besser verteidigen können als noch im gegenwärtigen Moment.
Etwas, dass die traditionelle Unterrichtsweise leider nicht so ganz leisten kann …
Wing Chun als Kampfkunst:
Denn Wing Chun kann man sowohl als Selbstverteidigung als auch als Kampfkunst unterrichten. Wird Wing Chun als Kampfkunst unterrichtet (wie in fast jeder Schule im deutschsprachigen Raum), dann dauert es Jahre bis man damit selbstverteidigungsfähig ist.
Denn man beschäftigt sich mit sehr vielen Dingen, die ihren Nutzen erst nach vielen Jahren des Trainings und tausenden Wiederholungen zutage fördern:
- Ein wichtiger Teil des Trainings sind dann nämlich die Formen wie Siu Nim Tao, Cham Kiu und Biu Tze. Es hat zwar langfristig einen großen Nutzen diese Formen zu trainieren, aber in Sachen Selbstverteidigung ergeben sie erstmal keinen Sinn.
- Ein weiterer wichtiger Bestandteil ist das Chi Sao Training (= spezielles Fühltraining im Wing Chun). Das bringt zwar schneller Resultate, aber dennoch sollte es nicht am Beginn des Trainings stehen, wenn man ausschließlich an Selbstverteidigung interessiert ist.
Einzig das sogenannte Lat Sao (=Freikampftraining) eignet sich sofort in punkto Selbstverteidigung. Da es aber nur einer von drei Teilen des traditionellen Wing Chun ist, ist das Training in Sachen Selbstverteidigung nicht wirklich effektiv.
Aber versteh mich bitte nicht falsch: Es macht großen Sinn, sich mit Formen und Chi Sao zu beschäftigen! Denn langfristig wirst du damit sagenhaft gut. Doch kurzfristig bietet es nicht dieselben Vorteile wie das Lat Sao Training.
Stell die Prioritäten auf den Kopf!
Im traditionellen Unterricht schaut man nämlich, dass man zuerst mal die Formen und Grundtechniken beherrscht, was sozusagen als das Alphabet dient im Wing Chun.
Danach liegt der Fokus auf dem Chi Sao. Auf das Erlernen von Sprachen übertragen lehrt es uns einzelne Wörter und Sätze.
Und erst am Schluss überträgt man diese Kenntnisse auf das Lat Sao. Nun lernt man zum ersten Mal frei zu sprechen. Am Anfang ist das zwar noch holprig, aber mit entsprechendem Training wird man immer besser darin.
Viele Lehrer legen also den Fokus darauf, dass zuvor erstmal die Formen und das Chi Sao korrekt beherrscht werden und dass man diese Fähigkeiten dann auf das Lat Sao überträgt.
Ist man allerdings vorrangig an Selbstverteidigung interessiert und möchte man, dass man dies so schnell wie möglich lernt, dann sollte man diese Reihenfolge auf den Kopf stellen:
Dann ist es für den Anfänger erstmal wichtig, Freikampfsituationen zu simulieren und entsprechende Antworten darauf zu erlernen. Auch wenn die Technik nicht immer „perfekt“ aussieht – das ist jemandem, der nur an Selbstverteidigung interessiert ist, herzlich egal.
Erst nach einem oder zwei Jahren des Trainings und Erlangung guter Kenntnisse in der Selbstverteidigung beschäftigt man sich mit dem Chi Sao und schlussendlich mit den Formen. Man holt sich bei dieser Vorgangsweise quasi im Nachhinein den Feinschliff – anstatt von Vornherein auf perfekte Technik zu achten.
Auch das wäre ein möglicher Weg Wing Chun zu erlernen. Allerdings ist es keine übliche Vorgangsweise, weshalb wir auch in unserem Mitgliederbereich für Wing Chun den klassischen Weg gewählt haben:
Wir sehen Wing Chun vor allem als Kampfkunst – auch wenn wir natürlich allerhand Lat Sao und Selbstverteidigungsübungen integriert haben.
Wichtige Ressourcen in Sachen Selbstverteidigung:
Solltest du Interesse daran haben, Selbstverteidigung online zu lernen (bzw. dies unterstützend zum Besuch einer Schule online zu lernen), dann habe ich nachfolgend einige interessante Ressourcen für dich. Einiges davon ist kostenpflichtig, doch manches ist für alle frei zugänglich …
Wenn du ausschließlich an Selbstverteidigung interessiert bist, dann wäre erstmal ein Selbstverteidigungskurs passend für dich. Auch das bieten wir online an:
Selbstverteidigung lernen – Schritt für Schritt
Und wir bieten auch einen Kurs zur Selbstverteidigung gegen Waffen an:
Selbstverteidigung gegen Messer & Stock – umfassend erklärt
Aber in punkto Selbstverteidigung geht es nicht nur um das körperliche Training. Mindestens ebenso wichtig ist die Vermeidung im Vorfeld:
Selbstverteidigung: 33 Regeln für deine optimale Sicherheit
Abschließend möchte ich allen Wing Chun Praktizierenden noch den Tipp auf den Weg geben, hin und wieder auch etwas Sparring zu trainieren. Es zahlt sich wirklich aus – vor allem in Sachen Selbstverteidigung. Siehe auch mein Video:
Sparring im Wing Chun? Ist das sinnvoll?
PS:
Ich habe eingangs erwähnt, dass viele das Wing Chun als eine Kampfkunst für Träumer halten und, dass es nie in einem Ring funktionieren würde.
Dazu möchte ich nur allzu gerne mal Stellung nehmen. Doch das werde ich in der nächsten Woche in einem eigenen Blogbeitrag tun 😉
Erstmal wünsche ich dir viel Spaß und Erfolg bei deinem Training!
Martin Grünstäudl – kampfkunstblog.com
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