Die Holzpuppenform (auf chinesisch Muk Yan Chong) ist die vierte und damit letzte waffenlose Form im Wing Chun. Und sie ist gleichzeitig die erste Form, für die man ein Trainingsgerät benötigt, nämlich eine Holzpuppe.
Das besondere an der Holzpuppenform ist, dass man zu einem großen Teil Techniken aus den anderen drei waffenlosen Formen wiederfindet – sprich aus der Siu Nim Tao, Cham Kiu und Biu Tze – welche wir allesamt in eigenen Beiträgen bereits behandelt haben.
Doch es gibt noch viele weitere Besonderheiten dieser Form, welche wir uns in diesem Beitrag genauer anschauen …
Die Besonderheiten der Holzpuppenform
#1 Die Namensgebung:
Die Besonderheiten beginnen bereits beim Namen. Denn bei den anderen waffenlosen Formen ist es üblich, den chinesischen Namen zu verwenden. Keiner spricht von der „Kleinen Idee Form“ oder der „Brücken legen Form“ (damit sind die Siu Nim Tao und die Cham Kiu gemeint).
Doch bei der Holzpuppe ist das auf einmal anders: Jetzt hört man auf einmal immer nur von der Holzpuppenform. Und die meisten kennen noch nicht mal den chinesischen Namen dafür, nämlich Muk Yan Chong.
Übrigens trifft das auch auf die Waffenformen zu. Dort sagt auch niemand Luk Dim Boon Kwan (= Langstockform) und selten sagt jemand zur Doppelmesserform Bart Cham Dao (= „Die 8 Wege der Doppelmesser“).
#2 Der Aufbau der Form:
Die Holzpuppenform besteht aus insgesamt 116 Bewegungen. Wobei man mit Bewegung immer die komplette Technik meint: Allein zum Beispiel den rechten Arm zu bewegen gilt noch nicht als Bewegung.
Eine Bewegung entspricht hier vielmehr einem „Geräusch“ – will heißen: Wenn ich Tan Sao, Handflächenstoß und Schritt mache, dann geschieht das gleichzeitig und verursacht ein einziges Geräusch. Es sind eben nicht drei Bewegungen hintereinander. Es ist als eine Bewegung zu sehen.
Übrigens wurde die Holzpuppenform, wie wir sie hier in Europa trainieren, von Großmeister Yip Man ersonnen. Einige Zeit umfasste die Form nur 108 Bewegungen, Yip Man ergänzte dann noch die fehlenden 8 hinzu.
Eine weitere Besonderheit was den Aufbau der Holzpuppenform betrifft ist, dass sie aus acht Sätzen besteht, wobei jeder Satz einer Chi-Sao-Sektion entspricht. Und das trifft zum ersten Mal zu, denn bei der Cham Kiu und Biu Tze hatten wir das noch nicht.
Im Unterschied zur Biu Tze gibt es nun auch wieder Tritte in der Form – und zwar mehr als in jeder anderen. Genauer gesagt befinden sich in der Holzpuppenform acht Tritte, wobei die meisten davon in den letzten beiden Sätzen vorkommen.
#3 Die Eingliederung in die Unterrichtsprogramme:
Die Holzpuppenform erlernt man in vielen Verbänden wie zum Beispiel der EWTO über drei Grade hinweg – somit befasst man sich mit keiner Form länger als mit der Muk Yan Chong:
- Die ersten drei Sätze lernt man auf den 3. Technikergrad.
- Die Sätze vier bis sechs sowie die entsprechenden Holzpuppensektionen zu den Sätzen 1 bis 6 lernt man auf den 4. Technikergrad.
- Die letzten beiden Sätze inklusive Holzpuppensektionen lernt man dann auf den ersten Meistergrad (= 5. Höherer Grad).
#4 Aufbauend auf bisherigen Formen:
Diesen Punkt haben wir eingangs bereits angesprochen: Viele der Techniken in der Holzpuppe haben wir bereits in der Siu Nim Tao und der Cham Kiu geübt. Vereinzelt finden wir auch Techniken aus der Biu Tze wie beispielsweise den Scheren-Gan-Sao.
Doch darüber hinaus beinhaltet die Holzpuppenform natürlich noch weitere Techniken – unter anderem die bereits angesprochenen Tritte.
#5 Man trainiert mit Widerstand:
Zum ersten Mal trainiert man eine Form nun mit Widerstand. Und die Holzpuppe ist da wirklich unnachgiebig.
Haben wir eine Holzpuppe wie auf obigem Bild, dann schwingt sie zumindest ein paar Millimeter, aber das wars dann auch schon – weiter gibt sie nicht nach.
Und das ist anfangs durchaus eine Herausforderung, denn der Übende wird sich oftmals selbst unabsichtlich wegdrücken und dadurch seine Kraft nicht richtig auf den Holzpuppenstamm übertragen können.
#6 Man kann Techniken 1 zu 1 anwenden:
In den bisherigen Formen hat man oft die Techniken gleichzeitig mit zwei Armen ausgeführt, was in einer Anwendung nicht viel Sinn machen würde.
Doch bei der Holzpuppe ist nun vieles anders. Auf einmal lassen sich die Techniken sogar 1 zu 1 auf eine reale Kampfsituation übertragen. Doch oft ist die Anwendungsmöglichkeit nicht so offensichtlich, wie man es auf den ersten Blick vermuten würde …
#7 Drei Arme und ein Bein:
Die Holzpuppe besteht aus drei Armen und einem Bein. Da aber die meisten Menschen nur zwei Arme besitzen, müssen wir uns zumindest einen Arm wegdenken 🙂
Speziell als Anfänger glaubt man, dass man sich meist innen befindet zwischen den oberen Armen. Doch in der Regel befinden wir uns in der Außenposition und müssten uns eigentlich einen der oberen Armen wegdenken. Und das ist dann auch der Grund, warum sich oft andere Anwendungsmöglichkeiten ergeben als man vermutet hat.
Was trainieren wir mit der Holzpuppenform?
#1 Wir trainieren gegen einen Widerstand:
Das haben wir bereits kurz angesprochen: Zum ersten Mal trainieren wir jetzt auch gegen einen Widerstand.
Und das ist wirklich sehr sinnvoll, denn wir lernen auch dann maximale Energie zu übertragen, wenn wir einem kräftemäßig überlegenen Gegner vor uns haben. Würden wir uns nicht anpassen, dann würden wir förmlich an ihm zerschellen.
Doch um zu lernen wie wir damit umgehen können, gibt es die Holzpuppenform. Wir lernen jetzt die komplette Energie auf den Holzpuppenstamm zu übertragen und nichts davon auf uns zurück zu projizieren.
#2 Korrektur der eigenen Positionen:
Wenn man an der Holzpuppe trainiert, dann erkennt man sofort, wenn man zu weit oder zu nah steht oder wenn man die Wendung nicht richtig macht.
Und da man alle Techniken auf beiden Seiten trainiert, erkennt man auch schnell Unterschiede zwischen rechter und linker Körperhälfte.
Bei mir war es anfangs nämlich so, dass es auf einer Seite relativ rasch gepasst hat, ich mich aber auf der anderen Seite sehr unwohl gefühlt habe beim Üben. Mithilfe genauerer Analyse konnte ich meine Schwachpunkte schnell ausmerzen.
#3 Lernen sich wegzudrücken:
In der Holzpuppenform lernen wir beides: Uns vom Gegner nicht wegzudrücken und uns sehr wohl wegzudrücken.
Nicht wegdrücken sollten wir uns, wenn wir einen Angriff machen und wollen, dass die gesamte Energie auf den Gegner gerichtet bleiben soll. Wir wollen uns hier bewusst NICHT wegdrücken lassen.
Allerdings kann es Situationen geben, wo der Gegner stark und übermächtig ist und wir uns bewusst wegdrücken wollen.
Der gemeinsame Nenner: Wir machen das Wegdrücken oder Nicht-Wegdrücken stehts bewusst!
#4 Mit Körpereinsatz trainieren:
An der Holzpuppe können wir nun unseren ganzen Körper an einem Gegenstand einsetzen und deshalb richtiggehend darauf einschlagen – was wir ja bei unserem Trainingspartner nicht können, da sich dieser schnell beklagen würde.
#5 Abhärtung der Gliedmaßen:
Auch das ist ein Grund, warum wir mit der Holzpuppe trainieren. Doch es ist in der Rangfolge sicherlich nicht der wichtigste Grund.
Gemeinsam mit Punkt #4 sorgt es aber dafür, dass wir wirklich enorme Schlagkraft aufbauen.
#6 Konstanten Druck aufrechterhalten:
Speziell im Nahkampf und im Chi Sao ist es wichtig, dass wir immer einen gewissen Vorwärtsdruck auf den Gegner beibehalten.
Nur dann können wir die Angriffsrichtung des Gegners überhaupt erspüren. Und nur dann können wir außerdem erspüren, dass der Weg frei ist und wir angreifen können.
Auch das kann man wunderbar mithilfe der Holzpuppenform trainieren.
Was sollte ich beim Training mit der Holzpuppe beachten?
#1 Den Rumpf einsetzen, nicht nur die Arme:
Wie bei allen anderen Formen gilt auch hier: Rumpf ist Trumpf!
Beim erstmaligen Erlernen der Holzpuppenform ist es noch ok, wenn man die Bewegungen mechanisch ausführt. Doch wenn man erstmal den Ablauf beherrscht, dann sollte man unbedingt auch den Oberkörper einsetzen und nicht nur die Arme.
Die Grundlage dafür haben wir ja bereits in den ersten drei Formen gelegt – vor allem in der Biu Tze.
#2 Du kannst schon sehr früh an der Holzpuppe trainieren:
An der Holzpuppe kann man nicht nur die Form trainieren. Es gibt darüber hinaus noch unzählige andere Übungen, die man sogar als kompletter Neuling an der Holzpuppe trainieren kann.
Beispiel dafür sind der Pak-Sao-Zyklus und Grundtechniken wie Tan Sao und Lap Sao inklusive Fauststoß. Genaue Beispiele und Anleitungen hierfür gebe ich übrigens in unserem Mitgliederbereich für Wing Chun.
#3 Die Holzpuppenform ist nicht automatisch überlegen:
Viele glauben, dass man mit der Biu Tze die Cham Kiu schlägt und mit der Holzpuppe die Biu Tze. Doch das stimmt keinesfalls!
Man braucht alle Formen, um richtig gut zu werden und keine der Formen ist besser als die anderen. Man sollte vielmehr jede dieser Formen gleichberechtigt und gründlich trainieren um Meister zu werden.
#4 Langsam üben:
Bei der Holzpuppe glauben viele, einen Geschwindigkeitsrekord aufstellen zu müssen.
Es ist schon ok, wenn man die Form hin und wieder in schnellem Tempo ausführt. Doch hauptsächlich sollte man diese Form sehr bewusst und daher auch langsam ausführen um den größtmöglichen Nutzen aus dem Training zu ziehen.
Man sollte dabei unbedingt das Prinzip des „Dim Dim Ching“ beherzigen. Es besagt, dass jeder Punkt klar sein sollte. Das geht aber nicht bei zu schnellem Üben.
#5 Die Form auch ohne Holzpuppe trainieren:
Ja auch das sollte man von Zeit zu Zeit machen: Die Holzpuppenform ganz ohne Holzpuppe frei in die Luft ausführen – so wie man es auch bei den anderen Formen macht.
Denn bei den einzelnen Techniken an der Holzpuppe werden wir immer von der Holzpuppe aufgehalten. Wir können daher die Techniken nie ausfließen lassen. Den maximalen Nutzen ziehen wir daher nur dann aus der Holzpuppenform, wenn wir sie zwar meist an der Holzpuppe trainieren, sie hin und wieder aber einfach nur vor dem Spiegel machen.
#6 Peripheres Sehen üben:
An der Holzpuppe kann man auch seine Aufmerksamkeit schulen und peripheres Sehen üben.
Eine Möglichkeit ist es, den Blick auf einen Punkt ein Stück oberhalb der oberen Holzpuppenarme zu richten, dabei aber die komplette Holzpuppe wahrzunehmen – inklusive des Beines. Probier es einfach mal aus!
PS:
Hier erhältst du weitere Informationen zur Kampfkunst Wing Chun / Wing Tsun:
- Wing Chun? Was ist das genau?
- Wichtige Begriffe im Wing Chun – einfach erklärt
- Hat das Training von Formen überhaupt einen Sinn?
Und hier erhältst du weitere Informationen zur Holzpuppenform im Wing Chun / Wing Tsun:
Schreibe einen Kommentar