Jede Kampfkunst hat ihre eigene Schrittarbeit und vor allem auch ihre eigenen Vorkampf- und Kampfstände.
Das ist im Wing Chun nicht anders. Dort gibt es zum Beispiel den IRAS als Vorkampfstand. Und es gibt auch den Kampfstand …
Doch halt: Gibt es wirklich DEN Kampfstand im Wing Chun?
Bei genauerem Hinsehen gibt es in der Tat nicht nur einen – es gibt in Wahrheit zumindest zwei Kampfstände, die im waffenlosen Wing Chun eingesetzt werden:
- Zum einen gibt es einen engen Stand mit dem kompletten Körpergewicht hinten, den fast jeder mit DEM Kampfstand im Wing Chun in Verbindung setzt. Dieser kommt das erste Mal in der Cham Kiu vor (der zweiten waffenlosen Form im Wing Chun).
- Zum anderen gibt es noch einen etwa schulterbreiten Stand mit einer eher gleichmäßigen Gewichtsverteilung, wie er unter anderem auch in den Doppelmessern vorkommt.
Der Kampfstand mit Gewicht hinten
Viele sind der Ansicht, dass dieser enge Stand mit dem kompletten Gewicht auf dem hinteren Fuß der einzige Kampfstand im Wing Chun ist und man immer so dasteht, vor allem wenn sich der Gegner bereits innerhalb der Tritt- bzw. Schlagdistanz befindet.
Doch das ist so nicht richtig. In Wahrheit ist diese Art des Standes in vielen Fällen sogar die falsche Wahl.
Nichtsdestotrotz gibt es aber vor allem EINEN Anwendungsfall, wo diese Art des Kampfstandes perfekt Sinn macht …
Die richtige Wahl in kurzer Distanz …
Nämlich dann, wenn man den Gegner bereits angegriffen und getroffen hat und nachsetzen will bzw., wenn der Gegner zurückweicht oder zur Seite hin ausweicht.
Ein Wing Chun Kampfprinzip lautet nämlich: „Zieht sich der Gegner zurück, dann folge“
Dieses Prinzip kann man im Wing Chun perfekt mit dem so genannten Verfolgungsschritt umsetzen (ein Lehrvideo dazu findest du hier)
Doch halt: Du siehst, wir reden bereits von einem Schritt und nicht mehr von einem Stand. Und als genau solches ist dieser Kampfstand auch zu sehen. Es ist in Wahrheit nur eine Momentaufnahme. Es macht keinen Sinn, dass du so dastehst – bewegungslos, das Gewicht komplett hinten, die Füße auf einer Linie.
Du wärst sonst komplett unbeweglich. Wirklich schnell kannst du dich nämlich nur in eine Richtung bewegen: nämlich nach vor. Eine schnelle Seitwärtsbewegung ist aus diesem Stand nicht möglich (zumindest nicht in beide Richtungen) – und auch dein Gleichgewicht ist sehr eingeschränkt.
Doch wenn du bereits angreifst und ganz nah am Gegner dran bist, macht dies auf einmal Sinn. Du kannst damit buchstäblich an deinem Gegner „kleben“ und ihn extrem unter Druck bringen.
Damit ist also geklärt, dass sich diese Art des Wing Chun Kampfstandes vor allem in extrem kurzer Distanz zum Gegner eignet.
Doch was ist, wenn man etwas weiter weg zum Gegner steht?
Eine mögliche Wahl in langer Distanz ..
Sehen wir uns zuerst mal die Langdistanz an. Und damit meine ich die Trittdistanz.
(Außerhalb dieser Distanz – also wenn wir uns noch weiter weg vom Gegner befinden – brauchen wir keinen speziellen Stand einzunehmen und einen Fuß nach vorne zu bringen, denn wir können ohnehin nicht getroffen werden.)
Hier kann diese Art des Kampfstandes durchaus Sinn machen – es muss aber nicht unbedingt jedem liegen.
Die Theorie dahinter ist, dass wir aus dieser Position heraus ansatzlos zutreten und auch Tritte abwehren können (z.B. mittels so genanntem Bong Gerk bzw. Tan Gerk).
Hast du hingegen dein Gewicht nicht komplett hinten, dann brauchst du zuerst eine Gewichtsverlagerung bevor du zutreten kannst – und das dauert nunmal etwas länger.
Zum anderen hört man oft das Argument, dass man weniger anfällig ist für Fußfeger, wenn man das komplette Gewicht hinten hat.
Allerdings hat diese Art des Kampfstandes in langer Distanz auch einen großen Nachteil: Du bist ziemlich unbeweglich.
Ich weiß ja nicht wie es dir geht: Aber ich bin lieber ein bewegliches Ziel als ein unbewegliches. Und deshalb bin ich kein sonderlicher Fan dieses Standes in langer Distanz.
Die falsche Wahl in mittlerer Distanz …
Sehen wir uns also noch die mittlere Distanz an.
Und da ist klar zu sagen, dass es absolut die falsche Wahl ist, wenn man eng dasteht mit dem Gewicht hinten.
Wenn du mir nicht glaubst, dann stell dich mal so hin und lass dich von deinem Trainingspartner mit einem Schwinger angreifen. Versuch jetzt mal dem Angriff mittels Pendeln auszuweichen.
Was? Es funktioniert nicht?
Na kein Wunder: Wenn du dein gesamtes Gewicht hinten hast, dann hast du auch nicht mehr viel Möglichkeit nach hinten auszuweichen.
Für einen echten Könner bist du dann ein leichtes Ziel. Weshalb du für die mittlere Distanz unbedingt einen anderen Kampfstand brauchst…
Der breitere und gleichverteilte Kampfstand
Es ist mir gänzlich unverständlich, warum Wing Chun Trainer von ihren Schülern verlangen, dass sie beim Ritualkampftraining ihr Gewicht komplett hinten haben sollen (auch bekannt als Blitz Defence).
Denn da steht man eben in mittlerer Distanz. Und man ist dadurch viel gefährdeter getroffen zu werden von einem Angriff – eben weil man unbeweglicher ist.
Viel besser ist es da, breiter zu stehen, und vor allem nicht das gesamte Gewicht hinten zu haben:
- Stehst du breiter, dann kannst du deine Hüfte besser drehen. Dadurch wird es viel leichter einem geraden Angriff durch eine Körperdrehung seitlich auszuweichen.
- Stehst du nicht ganz hinten, dann kannst du auch noch etwas nach hinten pendeln um z.B. einem Schwinger auszuweichen.
Damit ist eines klar: Bei mittlerer Distanz zum Gegner (also Fauststoß- aber noch keine Ellbogendistanz) ist der breitere Stand die beste Wahl.
Mein Tipp für dich in punkto
Kampfstand und Schrittarbeit
Somit haben wir jetzt geklärt, dass sich der Kampfstand mit Gewicht hinten für die Nahdistanz und der breitere Stand für die mittlere Distanz eignet.
Doch damit haben wir noch immer nicht geklärt, welchen Stand wir in der Trittdistanz einnehmen sollen.
Und das ist noch nicht alles: Selbst die zwei Kampfstände, die ich dir vorhin vorgestellt habe, sind nur Empfehlungen.
Ich halte es da wie Bruce Lee. Seine Einstellung zu diesem Thema war:
… Absorb what is useful, discard what is useless, and add what is essentially your own.
Nimm also auf, was für dich von Nutzen ist, verwirf was keinen Nutzen für dich hat und füge dein spezielles Eigenes hinzu.
Bei mir hat sich das mittlerweile dahingehend entwickelt, dass ich in der kurzen Distanz wirklich auf den Kampfstand mit Gewicht hinten setze.
In der Mitteldistanz vertraue ich einem breiteren Stand, habe allerdings meist etwas mehr Gewicht hinten als vorne und die Ferse des hinteren Fußes ist oben. Das habe ich mir die letzten Jahre vor allem von meinem Waffentraining angewöhnt und es funktioniert prächtig für mich.
Der besondere Vorteil davon: Ich habe dadurch noch einmal etwa 10 Zentimeter extra Raum nach hinten bei einem Angriff des Gegners. Ich brauche dazu nur die Ferse am Boden absetzen. Ein nicht zu unterschätzender Vorteil speziell wenn eine Waffe mit im Spiel ist.
In der Langdistanz verwende ich meist ebenfalls diesen Stand mit Ferse oben. Allerdings bin ich dabei auch ständig in Bewegung und ich wechsle auch mal die Auslage.
Allerdings ist das natürlich kein klassisches Wing Chun mehr. Aber was soll´s? Für mich persönlich funktioniert es und das ist die Hauptsache.
Mein Tipp also für dich: Verwende das, was für dich funktioniert (Natürlich musst du erstmal eine Menge Training investieren, um das herauszufinden – das ist halt leider die schlechte Nachricht).
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P.S.
Die Ausführung des Wing Chun Kampfstandes mit dem Körpergewicht hinten habe ich in einem Video erklärt: Der Kampfstand im Wing Chun – eine Anleitung per Video
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